Der Donnerstagsabend in der Kulturscheune hätte ruhiger kaum beginnen können, doch schon nach wenigen Worten von Historikerin Dr. Christine Hartwig-Thürmer wurde klar, wie sehr das Thema des Abends noch immer bewegt: "Zwangsarbeit in der Diktatur 1940–1945". Rund 50 Interessierte waren der Einladung des Vereins Stolpersteine Flörsheim gefolgt, um sich über jene rund 1400 Menschen zu informieren, die zwischen 1942 und 1945 gewaltsam aus ihrer Heimat nach Flörsheim verschleppt wurden.
Am 3. November 2023 hatte der Verein vor dem Ortseingang von Bad Weilbach eine sogenannte Stolperschwelle verlegen lassen – ein Gedenkzeichen, das an das Leid und die Ausbeutung dieser Männer, Frauen und Kinder erinnern soll. "Unsere Stadt war in den letzten Kriegsjahren Schauplatz eines Unrechts, dessen Ausmaß viele bis heute kaum begreifen können", betonte Bürgermeister Bernd Blisch in seiner Begrüßungsrede. "Wir wollen, dass die Opfer nicht vergessen werden."
Hartwig-Thürmers Vortrag zeichnete ein beklemmendes Bild des Alltags dieser Menschen: Sie waren in provisorischen Lagern untergebracht – dazu zählten unter anderem die Jahnturnhalle, der ehemalige Karthäuser Hof sowie die Gastwirtschaften „Zum Mainblick“ und „Zum Taunus“ – wo sie auf engstem Raum schliefen, unter mangelnder Hygiene litten und zusätzlich in Industrie- und Handwerksbetrieben sowie in der Landwirtschaft hart arbeiten mussten. "Es gab immer wieder Bauern oder Privatpersonen, die versuchten, den Zwangsarbeitern etwas zu essen zukommen zu lassen", berichtet Hartwig-Thürmer. "Doch wer sich offen solidarisch zeigte, musste mit Denunziation und strafrechtlichen Konsequenzen rechnen."
Die Historikerin schilderte Einzelfälle, in denen deutsche Nachbarn dennoch halfen: Einem Zwangsarbeiter, der einen Bombenangriff überlebte, habe ein Ortsansässiger das Leben gerettet, indem er ihn auf dem Rücken trug, als ein Ausweichen ins nächste Dorf unumgänglich war. Solche Menschlichkeit sei im System der NS-Diktatur jedoch die Ausnahme gewesen. "Natürlich gab es Menschen, die sich widersetzten", betont Hartwig-Thürmer. "Doch jeder Akt des Mitgefühls war mit großer persönlicher Gefahr verbunden."
Dass das Leid über die reine Zwangsarbeit hinausging, wird vor allem in Fragen von Beziehungen und Schwangerschaft deutlich. "Geschlechtsverkehr zwischen deutschen Frauen und ausländischen Zwangsarbeitern stand unter Todesstrafe", erklärte die Referentin. Umgekehrt "gestattete" das Regime Ostarbeitern zwar Beziehungen untereinander, doch wenn eine Schwangerschaft auftrat, griffen die Behörden gnadenlos durch: Entweder die Frauen wurden in Konzentrationslager verschleppt oder die Neugeborenen in sogenannten Kinderpflegestätten unter ärmlichsten Umständen versorgt. Viele starben früh und fanden anonyme Ruhestätten, die nach Kriegsende oft eingeebnet wurden.
Einen besonders ergreifenden Einblick in die menschlichen Schicksale boten Abiturientinnen und Abiturienten des Graf-Stauffenberg-Gymnasiums. Sie schilderten das Beispiel von Maksim Kiriljuk, der mit 28 Jahren aus der Ukraine nach Rüsselsheim verschleppt und später in das Arbeitslager Bad Weilbach verfrachtet wurde. Bei Bombardierungen, so die Überlieferung, gab es keinen Schutz: Zwangsarbeiter durften nicht in die Bunker, lebten in ständiger Angst. Kiriljuk starb unter entwürdigenden Umständen und wurde in der Nähe der Schwefelquelle verscharrt. "Bis heute erinnerte dort nichts an ihn", merkte eine Schülerin an.
Der verlegte Gedenkstein in Bad Weilbach ist nur ein Schritt auf dem Weg, die Verbrechen der NS-Zwangsarbeit in Flörsheim sichtbar zu machen. "Wir müssen uns diesem Kapitel stellen, damit es nicht in Vergessenheit gerät", betonte Martina Eckert, Vorsitzende des Vereins Stolpersteine Flörsheim. Genau dafür sorgen Menschen wie Christine Hartwig-Thürmer mit ihrer Forschungsarbeit sowie die Schülerinnen und Schüler, die das Thema im Rahmen von Projekten aufarbeiten. Eckert sprach den Beteiligten und vor allem den Schülerinnen und Schülern ihren Dank aus: "Euer Engagement ist nicht nur beeindruckend, sondern auch unverzichtbar. Es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass diese Geschichten nicht verblassen."
So endete ein Abend, der das Publikum sichtlich bewegt entließ. "Zwischen 1940 und 1945 wurden rund 8,5 Millionen Menschen aus Polen, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt und als Arbeitskräfte ausgebeutet", fasste Hartwig-Thürmer zusammen. „Trotz aller ideologisch und kriegspolitisch motivierten Verbote konnten sich dennoch persönliche Kontakte entwickeln, die teilweise auch nach Kriegsende anhielten und letztlich zur Festigung demokratischer Strukturen beitrugen.“
Mit dieser Botschaft klang der Abend in der Kulturscheune aus – und hinterließ das Gefühl, dass es an der Zeit ist, hinzuschauen und nicht mehr wegzusehen. Denn die Geschichten der Zwangsarbeiter sind Teil unserer Stadt. Wer nun mehr erfahren möchte, ist eingeladen, die Gedenkorte in Flörsheim und Umgebung zu besuchen oder an den nächsten Veranstaltungen des Vereins Stolpersteine Flörsheim teilzunehmen. Denn je genauer wir den Blick auf unsere Vergangenheit richten, desto wachsamer und mitfühlender gestalten wir unsere Zukunft.
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