Am Montagabend lud die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Main-Taunus-Kreis (CJZ) gemeinsam mit der Flörsheimer Buchhandlung zu einer besonderen Lesung und Diskussionsveranstaltung in die Kulturscheune am Rathausplatz in Flörsheim ein. Im Mittelpunkt stand das Buch "Föhrenwald, das vergessene Schtetl" des Autors und Journalisten Alois Berger. Der Abend zog rund 50 Zuhörer an, die einem wenig bekannten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte begegneten: Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands 1945 quartierte die US-amerikanische Besatzungsmacht in den Arbeiterhäusern von Föhrenwald sogenannte DPs ein - Displaced Persons, also Heimatlose, vor allem Jüdinnen und Juden, die die deutschen Vernichtungslager und Todesmärsche überlebt hatten. Zwischen 1945 und 1957 lebten dort über 5.000 Überlebende der Shoah.
Alois Berger, der heute in Berlin lebt, wuchs in Wolfratshausen auf. Erst durch einen Zeitungsartikel erfuhr er von der Geschichte dieses Ortes. "Ich habe erfahren, dass im Wolfratshausener Ortsteil Waldram eine Erinnerungsstätte entstehen sollte", berichtete Berger den gebannten Zuhörern. "Erst da wurde mir bewusst, dass dort, wo ich einst zur Schule ging, zwölf Jahre lang eine Siedlung mit zeitweise fast 6.000 jüdischen Bewohnern existierte."
Diese Entdeckung veranlasste Berger zu einer intensiven Recherche. Er führte Gespräche mit ehemaligen Bewohnern, reiste nach Israel, durchforstete Archive und sprach mit Historikern. Das Ergebnis ist ein bewegendes Werk, das die Leser auf eine Reise in die Vergangenheit mitnimmt und zum Nachdenken anregt.
Während der Lesung betonte Berger, wie persönlich ihn die Geschichte von Föhrenwald berührt. "Ich habe meine Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, ohne zu ahnen, was sich dort tatsächlich abspielte", sagte er und machte damit die erdrückende Stille und das Schweigen deutlich, das das Schicksal von Föhrenwald umgab.
Ursprünglich 1939 unter nationalsozialistischer Herrschaft für Arbeiter von Munitionsfabriken erbaut, wurde Föhrenwald nach 1945 zu dem Auffanglager für Überlebende der Shoah. Die amerikanische Militärverwaltung erklärte es zum "Jewish Displaced Person Center". Viele von ihnen waren physisch und psychisch gezeichnet, fanden jedoch in Föhrenwald nicht nur Schutz, sondern auch die Möglichkeit, Hoffnung zu schöpfen und neue Lebensentwürfe zu gestalten.
Das Lager entwickelte sich zu einer lebendigen jüdischen Gemeinde mit eigener Selbstverwaltung, Synagogen, Schulen, eigener Zeitung, Polizei und sogar einer Rabbinerschule. Dennoch blieb die Gemeinschaft weitgehend von der deutschen Gesellschaft isoliert. "Für die Kinder war Föhrenwald ein Paradies, für die Erwachsenen war es die Hölle", zitierte Berger den ehemaligen Bewohner Abraham Ben und verdeutlichte so die Kontraste im Leben der Menschen dort.
Berger ging auch auf bedeutende Persönlichkeiten ein, die in Föhrenwald lebten und später wichtige Rollen in Israel übernahmen, wie der ultraorthodoxe Oberrabbiner Yekusiel Yehuda Halberstam und der zionistisch geprägte Gedalyahu Lachman. Für Lachman stand weniger die Religion, sondern ein eigener Staat für die Juden im Vordergrund. Viele der Kämpfer des neuen Staates Israel wurden, wie Berger beschreibt, im nahegelegenen Lager Königsdorf ausgebildet.
Der Autor ordnet die Erlebnisse der Bewohner Föhrenwalds präzise in den historischen Kontext ein. Dies gilt zum Beispiel für den Kampf weißrussischer jüdischer Partisanen gegen die Nazi-Gewaltherrschaft oder das Elend der von Südfrankreich nach Haifa und auf britischen Befehl wieder zurückgeschickten "Exodus"-Flüchtlinge. Berger erinnert auch an den Auftrag des Völkerbunds von 1922, der Großbritannien verpflichtete, eine nationale Heimat für das jüdische Volk zu schaffen, während London gleichzeitig den arabischen Palästinensern eine staatliche Unabhängigkeit in Aussicht stellte. Diese historischen Verbindungen helfen, auch die heutigen Konflikte im Nahen Osten besser zu verstehen.
1957 endete das Kapitel Föhrenwald, als die Siedlung von einer katholischen Einrichtung übernommen und in Waldram umbenannt wurde. Sie bot fortan vor allem Flüchtlingen aus dem Sudetenland eine neue Heimat. Berger stellte die Frage, warum Föhrenwald über Jahre hinweg neben Wolfratshausen existieren und dann nahezu in Vergessenheit geraten konnte. "In meiner Familie wurde niemals über Föhrenwald gesprochen", erinnerte er sich. Auch bei ehemaligen Schulkameraden stieß er auf wenig Wissen oder Erinnerung.
Eine mögliche Erklärung sieht Berger in der damaligen Haltung der Gesellschaft: "Das Lager Föhrenwald, das sich zwölf Jahre Tag für Tag gegen das Vergessen und Verdrängen stellte, hat gestört." Berichten zufolge habe es bei der Auflösung des Lagers Bestrebungen gegeben, schnell alle Spuren der jüdischen Vergangenheit zu beseitigen. "Katholische Vorbehalte gegenüber Juden trafen auf die Sehnsucht vieler Bürger nach Ruhe im Ort", so Berger.
Abschließend hob der Autor die Bedeutung der Erinnerungsarbeit hervor. Dank Initiativen wie dem 2018 eröffneten Museum in Waldram werde die Geschichte von Föhrenwald bewahrt und sichtbar gemacht. "Die Ausstellung verleiht den Bewohnern von Föhrenwald und Waldram Gesicht und Stimme. Sie nimmt der bislang verdrängten Geschichte das Ungewisse und das Bedrohliche", fasste Berger zusammen.
Die Veranstaltung endete mit regen Gesprächen unter den Besuchern. Viele blieben noch lange nach der Lesung, um sich auszutauschen und das Gehörte zu reflektieren. Mit seinem Buch trägt Alois Berger dazu bei, ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte ans Licht zu bringen und einen wichtigen Beitrag zur historischen Aufarbeitung zu leisten.