Von der Notwendigkeit, Lehren aus der Pandemie zu ziehen

Virologe Christian Drosten stellte gemeinsam mit Journalist Georg Mascolo sein erstes Buch im Literaturhaus Frankfurt vor

V.l.n.r.: Moderatorin Cécile Schortmann, Virologe Christian Drosten und Journalist Georg Mascolo am 11. Dezember im Literaturhaus Frankfurt.

Der Saal im Literaturhaus Frankfurt war am 11. Dezember frühzeitig ausverkauft - ein sicheres Zeichen dafür, dass das Thema im Mittelpunkt dieses Abends die Menschen immer noch intensiv bewegt. Zu Gast waren Virologe Christian Drosten und der Journalist und Bestsellerautor Georg Mascolo. Beide stellten ihr neues Buch vor: "Alles überstanden?" liefert laut eigenem Untertitel ein "überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird". Die Moderation des Abends übernahm die in Frankfurt lebende Journalistin und Fernsehmoderatorin Cécile Schortmann, bekannt unter anderem als Moderatorin des 3sat-Magazins "Kulturzeit".

Fast fünf Jahre liegt der Beginn der Corona-Pandemie nun schon zurück, und längst läuft das Leben in Deutschland wieder in den gewohnten, geordneten Bahnen. Zumindest der gegenwärtige Alltag wird nicht mehr von Maßnahmen und Beschränkungen vor dem Hintergrund der Pandemie beeinträchtigt - die Folgen dieser einschneidenden Krise gilt es aber immer noch zu bewältigen, und vor allem gilt es auch, wichtige Lehren daraus zu ziehen. Und diese Reflexion nimmt mitunter nicht den Stellenwert ein, den sie eigentlich verdient hat.

Im Laufe des (angesichts des ernsten Themas auch durchaus launigen) Abends wurde einerseits deutlich, was man in Deutschland angesichts der Pandemie gut hinbekommen hat, und andererseits natürlich auch, was eher schief gelaufen ist. So hat man hierzulande die erste Welle erstaunlich gut bewältigt, insbesondere auch im internationalen Vergleich. Drosten richtete hier den Bilck auf England:

Die Maßnahmenkataloge als Reaktion auf die erste Corona-Welle waren in beiden Ländern sehr ähnlich, in England sogar eher noch etwas strenger. Der große Unterschied war jedoch, dass man in Deutschland zu Beginn der Inzidenzkurve etwa zwei bis drei Wochen früher mit den Maßnahmen begonnen hatte, mit der Folge, dass man sich in Deutschland im Frühjahr 2020 immer noch frei bewegen durfte, während das in anderen Ländern nicht mehr der Fall war: Dort patroullierte die Polizei durch die Straßen und aus Verzweiflung wurde Desinfektionsmittel über die Bordsteine geschüttet, beispielsweise in Spanien. Und in diesen Ländern dauerten dann die scharfen Maßnahmen auch viel länger an als in Deutschland, das ja einen vergleichsweise normalen Sommer im ersten Pandemiejahr erleben durfte. Im Vergleich zu England kann man festhalten, dass durch den frühen Start der Maßnahmen in Deutschland in der ersten Pandemiewelle etwa 60.000 Menschenleben gerettet wurden.

Dieses "glimpfliche Davonkommen" hat aber auch dazu beigetragen, dass man an die nächste Welle mit weniger Demut herangegangen ist als andere Länder, die bereits erheblich mehr Corona-Tote zu betrauern hatten. Das sogenannte Präventionsparadox entfaltete seine Wirkung: Man hat in Deutschland nicht gesehen, was man durch die Maßnahmen verhindert hat. In Deutschland musste nicht - wie in Madrid - eine Eissporthalle in eine Leichenhalle umfunktioniert werden. Statt dessen hat man überwiegend die nervtötenden Maßnahmen als Hauptproblem wahrgenommen.

Es kam in der öffentlichen Diskussion die Frage auf, ob es in Deutschland überhaupt zu einer zweiten Welle im Winter kommen würde - oder ob die Pandemie jetzt schon vorbei ist. In der Medienöffentlichkeit setzte sich mehr und mehr die (auch politisch populäre) Meinung durch, dass das alles nicht so schlimm kommen würde. Und als dann die Inzidenz im Oktober 2020 wieder stieg und die Evidenz für die Winterwelle eindeutig auf dem Tisch lag, trat man zunächst geduldig in eine politische Diskussion ein, ob eine Kompromisslösung wie ein Teil-Lockdown nicht ausreichen würde. Dieses Zaudern, dieses Feilschen mit der Pandemie hatte zur Folge, dass die Bevölkerung ebenso wie die Ökonomie zwar trotzdem unter vielen einschneidenden Maßnahmen zu leiden hatte, diese jedoch gleichzeitig nicht den gewünschten Effekt erzielen konnten. Über Wochen hinweg hatte man deshalb täglich 800 bis 1.000 Tote zu beklagen. "Das war einfach der schlechteste politische Kompromiss", resümiert Christian Drosten. Wenn man nur halbherzig bremst, dann hat man die Kosten - aber nicht den Nutzen. "In diesem Winter sind dann 60.000 bis 65.000 Leute gestorben, die nur wenige Wochen später hätten geimpft werden können." Damit wurde Deutschland zum einzigen europäischen Industrieland, das in der zweiten Welle eine höhere Sterblichkeit zu verzeichnen hatte als in der ersten.

Infotainment ist nicht Wissenschaft

Drosten sieht es auch als eine Folge der Pandemie an, dass das Ansehen der Wissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung Schaden genommen hat. Die Unbestechlichkeit, die normalerweise in der Medizin und in naturwissenschaftlichen Fächern herrscht, wurde ausgetauscht gegen die Idee, dass alles relativ sei, alles Meinung und alles diskutabel. Man habe in diesem Bereich normalerweise nicht diese Idee von Meinungsstreit; man müsse dort nicht dauernd Diskurse führen, um sich der Wirklichkeit anzunähern, so der Virologe. Vielmehr wisse man schon, welches zunächst unscharfe Bild sich dort abzeichnet, und daran tastet man sich mehr und mehr heran. Man sei sich nicht uneinig darüber, in welche Richtung man sich bewegen müsse, und man dreht sich nicht plötzlich um 180 Grad. Die vielen Talkshows zum Thema Corona hingegen, die während der Pandemie im Fernsehen liefen und als wissenschaftliche Diskussionen wahrgenommen wurden, stellten eher Infotainment dar, wo man einen Professor A einem Professor B gegenübersetzte und der Eindruck geweckt wurde, dass die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte der dort gezeigten Diskussion liegt.

"Das ist aber nicht so", stellt Christian Drosten klar. Ein solches Bild entspricht nicht der Realität der Wissenschaft, sondern lediglich der Realität einer solchen zusammengewürfelten Talkrunde. Und natürlich werden für solche Sendungen auch gezielt Einladungen ausgesprochen in der Erwartung, dass die Gäste kontrovers aufeinander losgehen.

Zu träge zur Aufarbeitung

Der Co-Autor Georg Mascolo kritisiert vor allem das mangelnde Bestreben hierzulande nach einer Aufarbeitung der Pandemie. In Schweden habe man sich schon während der Krise entschieden im Nachhinein eine Evaluation durchzuführen. Während sich in Deutschland die Ampelregierung darüber stritt, ob es eigentlich eine Corona-Aufarbeitung geben soll oder nicht, war man in Schweden damit schon fertig. Und damit lösen Länder wie Schweden das ein, was an diesem Abend in Frankfurt immer wieder gefordert wurde: Eine nachträgliche Rechenschaft. Eine Aufklärung - keine Abrechnung! Staat und Gesellschaft können viel lernen, wenn man sich unaufgeregt fragt: Was war falsch? Was war richtig? Wie diskutieren wir solch schwierige Fragen? Wie gehen wir damit um, wenn etwas in Wahrheit für Politik und Gesellschaft nicht nur eine Herausforderung, sondern auch einer Überforderung darstellt?

"Und diese Trägheit, diese Bequemlichkeit zu sagen: Aber jetzt haben wir irgendwelche anderen Probleme, und deswegen schauen wir nicht zurück - das halte ich für grundfalsch", brachte Mascolo den Kern seiner Kritik auf den Punkt.

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