Beginn eines neuen Kapitels

Präsentation der „Flörsheimer Madonna“ / Suche nach Marienaltar führt zu Pestpfarrer Münch

Holzschnitzer Mario Sanden (3. von links) erläuterte Hans Jakob und Luzia Maria Gall, Simone und Andreas Sahm sowie Gerald Gall (von links), den Gründern der Stiftung „Marienkapelle Flörsheim am Main“, wie er an dem Lächeln der Flörsheimer Madonna arbeitete.
(Fotos: A. Noé)

FLÖRSHEIM (noe) – „Wir holen ihr Lächeln nach Flörsheim zurück“, hatte Hans Jakob Gall im Herbst 2015 das Ziel auf den Punkt gebracht. Am Wochenende konnte man sich in der Kulturscheune davon überzeugen, dass Gall sein Wort gehalten hat: die Replik der „Flörsheimer Madonna“ wurde erstmals am Samstag, 19. März, und nochmals am darauffolgenden Sonntag, 20. März, der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu sehen war eine perfekte Kopie des um 1490/1500 geschaffenen Originals, das im Wiesbadener Landesmuseum ausgestellt ist. Drei Monate hatte der von Hans Jakob Gall beauftragte anerkannte Kopist und Holzschnitzer Mario Sanden in einer Werkstatt des Landesmuseums akribisch an der Replik gearbeitet. Das Ergebnis ist überaus beeindruckend: Sanden ist es, neben all den anderen Details, auch gelungen, das wissende und zugleich geheimnisvolle Lächeln der 500 Jahre alten Madonnenstatue perfekt zu übertragen. Zweifelsohne eine echte Meisterleistung, die jeden Cent der 16.500 Euro teuren Holzschnitzarbeit rechtfertigt.

Hinter dem nunmehr vollendeten Projekt steht die von Hans Jakob und Luzia Maria Gall gemeinsam mit ihrem Sohn Gerald und mit Simone und Andreas Sahm gegründete Stiftung „Marienkapelle Flörsheim am Main“. Sie bittet für die Replik der „Flörsheimer Madonna“ weiterhin um Spenden; noch fehlen 3.000 Euro, um den Künstler zu bezahlen. Außerdem sammelt die Stiftung Geld, um die Sanierungsmaßnahmen an der auf dem Axthelm-Gelände stehenden Marienkapelle realisieren zu können: das kleine Bauwerk soll nämlich – mit der Madonna als Herzstück – ab dem Herbst dieses Jahres wieder als Gotteshaus genutzt werden. Angesichts des Wertes der Statue ist allerdings nicht nur die Gewährleistung eines schonenden Raumklimas unabdingbar: auch die Installation einer Alarmanlage ist (leider) notwendig.

Licht ins Dunkel
Neben dem Lächeln der Flörsheimer Madonna ist auch ihre Geschichte, zumindest in weiten Teilen, geheimnisvoll. Hans Jakob Gall und Prof. Dipl.-Ing. Horst Thomas, seines Zeichens Architekt, Stadtplaner und Denkmalpfleger, konnten etwas Licht ins Dunkel bringen. Gall fand heraus, dass die Statue Ende des 15. Jahrhunderts im Rheingau, und zwar in der Werkstatt des sogenannten „Brustlatzmeisters“, angefertigt wurde. Zu dieser Zeit kam es zu einem Stilwandel: bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts unterschieden sich die Madonnen mit ihrer zierlichen Gestalt und ihrem puppenhaft wirkenden Gesicht kaum voneinander, beeinflusst von der niederländischen Kunst setzte sich dann jedoch laut Prof. Thomas ein „realistischerer Einfluss durch, der die persönlichen Merkmale des Individuums betont“. Er erkennt in dem Lächeln der Flörsheimer Madonna einen vorsichtigen Hinweis auf „die beginnende Individualisierung und persönliche Charakterisierung“, für deren Vollendung die Werke der großen Meister Tilman Riemenschneider, Albrecht Dürer und Veit Stoß stehen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, so Prof. Thomas, seien zudem die Künstler aus der Anonymität herausgetreten und hätten ihre Werke auch signiert. Der Name des Rheingauer Brustlatzmeisters bleibt jedoch unbekannt, seine Visitenkarte ist der ihm eigene Stil.

Aus der Werkstatt des Brustlatzmeisters stammt auch eine Marienfigur der Eltviller Kirche St. Peter und Paul – diese „Schwester“ der Flörsheimer Madonna sei zwar aufwendiger gestaltet, ihr fehle jedoch jenes feine, wissende Lächeln, betont Hans Jakob Gall. Er vermutet einen Stifter aus Flörsheim oder die Gemeinde als Auftraggeber, Standort der Madonna könnte der seinerzeit existierende Marienaltar in der (alten) Kirche St. Gallus gewesen sein – im Jahre 1476 war das Patronatsrecht an die Gemeinde übergegangen. Da auch die Rückseite der Figur sehr detailreich gestaltet wurde, habe sie jedoch mit Sicherheit nicht in einer Altarnische, sondern frei gestanden, meint Gall. Die Flörsheimer Madonna dürfte als spätgotisches Werk indes nicht viel länger als hundert Jahre in St. Gallus zu sehen gewesen sein. Als die Barockzeit auch in Flörsheim Einzug hielt – im Jahre 1617 wurde die Kirche neu ausgemalt – war für sie dort vermutlich kein Platz mehr. Die Madonna, welche aufgrund ihres ursprünglichen Standortes heute auch „die Flörsheimerin“ genannt wird, entsprach nicht mehr dem Zeitgeschmack und wurde weggeräumt.

Lange Zeit war sie aus der Kirche und schließlich auch aus dem Gedächtnis der Leute verschwunden. 300 Jahre später tauchte die, möglicherweise auf einem Dachboden „zwischengelagerte“, Statue wieder auf: 1938 wurde sie von einem Kunsthändler dem Hessischen Landesmuseum angeboten. Hans Jakob Gall ging dem Vorgang auf den Grund, er stieß in der entsprechenden Gesamt-Jahresabrechnung des Landesmuseums auf einen interessanten Vermerk: „Raum 29 Gotische Skulpturen, Ankauf 2687,50 RM.“ Gall geht davon aus, dass es sich hierbei um den Kauf der „Flörsheimerin“ handelt, das Landesmuseum hat nämlich seinen Nachforschungen zufolge im Jahre 1938 nur eine gotische Skulptur erworben. Hans Jakob Gall erfuhr durch Dr. Bernd Blisch, dem kommissarischen Direktor des Stadtmuseums Wiesbaden und Vorsitzenden des Flörsheimer Heimatvereins, der auch das hiesige Heimatmuseum betreut, von der Madonna. „Ich habe mich sofort in ihr Lächeln verliebt“, bekennt Gall. Damit schließt sich der Kreis; zugleich wird, in Gestalt der „neuen Flörsheimerin“, auch ein neues Kapitel begonnen.

Auffällig an der Replik sind die fehlenden Teile: Kopf und Arme des Jesuskindes sind, vermutlich aufgrund mutwilliger Zerstörung, nicht mehr vorhanden. Wie Prof. Thomas erklärte, habe man sich jedoch ganz bewusst gegen entsprechende Ergänzungen entschieden: „Die Skulptur steht vor uns, wie sie Geschichte erlitten hat und die Nachbildung folgt getreu der Originalsubstanz. Die Beschädigungen selbst sind Teil ihrer Geschichte.“

„Eine Sensation“
Ein weiteres geschichtliches Zeugnis fand Hans Jakob Gall bei seinen Recherchen nach dem Marienaltar, dem vermuteten einstigen Standort der Flörsheimer Madonna in der Kirche St. Gallus. Es handelt sich um einen Verleihbrief vom 1. März 1701, mit dem die Pfründe am Marienaltar, also die mit dem Kirchenamt verbundenen Einkünfte, zeitweilig übertragen wurden. Geregelt wurden Umfang, Art und Dauer der Bewirtschaftung der zum Altar gehörenden Äcker und des Weinbergs, des Weiteren wurden Sanktionen im Falle eines Verstoßes gegen diese Anordnungen festgelegt. Die Pfründe gingen an den Flörsheimer Bürger Johann Caspar Bernhart, angebaut werden sollten Erbsen, Linsen und Weizen. Das Besondere: Bernhart erhielt die Pfründe aus den Händen des Flörsheimer „Pestpfarrers“ und Initiators des „Verlobten Tages“ Laurentius Münch.

Für Hans Jakob Gall ist die Urkunde mehr als nur ein schöner Fund, denn mit ihr wurde – ausgerechnet im Jahr der 350. Wiederkehr des Verlobten Tages – eine Verbindung zwischen dem Marienaltar und dem Pestpfarrer bewiesen. „Das ist eine Sensation“, ist Gall überzeugt. Außerdem ist der Verleihbrief die bislang größte bekannte handschriftliche Ausarbeitung Münchs, der ab 1674 nicht mehr in Flörsheim lebte. Zum Zeitpunkt der Beurkundung war Münch als Kanoniker des Kollegiatsstifts „St. Maria ad gradus“ in Mainz tätig, gleichwohl blieb er im Besitz der Flörsheimer Pfründe, die er bei Bedarf verpachten durfte.

Hans Jakob Gall hat als Autor des Buches „Mensch Münch“, das bereits in der Flörsheimer Buchhandlung erhältlich ist, in den letzten beiden Jahren gründlich recherchiert. Er war auf der Suche nach Dokumenten, die etwas von dem Menschen hinter der gewissermaßen legendären Gestalt des Pestpfarrers verraten. „Nirgendwo habe ich einen Hinweis auf die Pfründe des Pfarrers am Marienaltar gefunden“, so Gall. „Und jetzt dieses!“

 

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