"Man sollte nicht von einem Schicksalstag sprechen"

Großes Interesse an der Gedenkveranstaltung mit Konzert zum 9. November

Das Bremer Ensemble „Die Grenzgänger“ arbeitete das Datum 9. November musikalisch auf.

"Der 9. November stellt uns in jedem Jahr neu vor die Aufgabe: Wie können wir der unterschiedlichen historischen Ereignisse, derer von 1918, 1938 und 1989, so gedenken, dass nicht eines dem historischen Vergessen anheimfällt? Dies ist keine nebensächliche Frage, sondern sie gehört in das Zentrum unseres Selbstverständnisses. An der Art und Weise, wie die Deutschen die verschiedenen 9. November in Erinnerung halten und ihrer würdig und angemessen gedenken, entscheidet sich unsere Identität." Mit diesem Zitat von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus dem Jahre 2022 eröffnete Anja Pinkowsky vom Stadtarchiv Hattersheim am vergangenen Samstagabend die hiesige Gedenkveranstaltung zum 9. November im Hattersheimer Stadtmuseum, die mit 75 Gästen erfreulich gut besucht war. Immer wieder mussten noch nachträglich Stühle herbeigeschafft werden, damit jeder für die gut zweistündige Veranstaltung auch einen Sitzplatz hatte.

Zurück zum Steinmeier-Zitat: Es stellt sich die Frage, ob es sich beim Datum 9. November um einen "Schicksalstag" handele oder nicht, ob es eher ein Gedenktag, ein Feiertag oder ein Tag der Reflexion ist oder sein sollte. Immer wieder wird der Wunsch laut nach einem Deutschen Nationalfeiertag am 9. November, doch ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt schnell auf, wie zwiespältig ein solcher Schritt wäre: Im Jahre 1848 wurde an diesem Tag der Paulskirchenabgeordnete Robert Blum ermordert. 1918 fand an jenem Datum die Novemberrevolution statt, 1923 in München der Hitler-Ludendorff-Putsch, 1938 brannten im gesamten Deutschen Reich die Synagogen und 1989 fiel die Berliner Mauer.

Geschichte bietet Orientierung für Gegenwart und Zukunft, so Pinkowsky. Sie ist eine Grundlage für das politische, soziale und kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft. Mit "Erinnerungskultur" spricht man vom persönlichen und kollektiven Umgang mit der Vergangenheit und der Geschichte. "Der Umgang mit historischen Ereignissen befindet sich dabei immer auch in einem Spannungsverhältnis zur Geschichtspolitik. Dagegen gesetzt werden sollte stets die Entwicklung eines kritischen, möglichst umfassenden, eine differenzierten und vor allem auch multiperspektivischen Geschichtsbewusstseins." Anja Pinkowsky erinnerte hier an die Forderung Adornos in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur "Erziehung zur Mündigkeit". Dieser Anspruch an Bildung und Unterricht sollte gewährleisten, dass Mechanismen aufgedeckt werden, die Menschen dazu gebracht haben, an NS-Verbrechen mitzuwirken oder diese zu tolerieren.

In diesem Zusammenhang kann die Stadt Hattersheim auf eine langjährige und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit zurückblicken, insbesondere auch mit lokalen Akteuren wie der Heinrich-Böll-Schule. Dokumentiert wurde diese Kooperationsarbeit unter anderem in der 2014 erschienenen Publikation "Man müsste einer späteren Generation Bericht geben", die an diesem Abend im Stadtmuseum auch zum Mitnehmen bereit lag, ebenso wie das anlässlich des 70. Jahrestages des Novemberpogroms erschienene Buch "Hattersheim, Eddersheim, Okriftel im Nationalsozialismus" von Anna Schmidt.

Die Schicksale von insgesamt 93 Opfern der Nazi-Herrschaft aus allen drei Stadtteilen sind bislang dokumentiert. Zwischen den Jahren 2010 und 2013 wurden insgesamt 81 Stolpersteine verlegt. 2018 wurde zudem ein Gedenkstein für die Okrifteler Sinti auf dem dortigen Kirchplatz errichtet.

Das Hattersheimer Stadtarchiv hat eine digitale Ausstellung zu den Geschehnissen rund um den Pogrom in den drei Hattersheimer Stadtteilen entwickelt. Diese kann abgerufen werden unter:

https://www.hattersheim.de/digitale-ausstellung

So wird dort unter anderem an das Schicksal der Familie Nassauer erinnert. Am Abend des 10. Novembers 1938 wurde in Hattersheim das Wohn- und Geschäftshaus des Metzgers Ludwig Nassauer an der Ecke Hofheimer Straße / Mainzer Landstraße überfallen. Das Haus wurde verwüstet, Wertsachen wurden gestohlen. Ludwig Nassauer wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Bei den Tätern handelte es sich unter anderem um SA-Männer aus der Gemeinde und Anwohner aus der näheren Umgebung. Weitere Informationen und Zeitzeugenberichte können der beeindruckenden digitalen Ausstellung entnommen werden.

Die Verantwortung des Einzelnen

Anja Pinkowsky gab zu Bedenken, dass das reine Gedenken an vergangene Ereignisse, ohne Wissen um historische Kontexte und ohne eine aktive Auseinandersetzung mit der Thematik, letztlich nur zu einem leeren Ritual werde. Deshalb sei es wichtig, die Erinnerung an die verschiedenen historischen Ereignisse des 9. Novembers hochzuhalten und eben nicht von einem "Schicksalstag" zu sprechen - denn dieser Begriff suggeriert, dass die Ereignisse nicht zu beeinflussen waren. Jedoch seien gesellschaftliche, politische und auch persönliche Entscheidungen immer beeinflussbar. "Der 9. November sollte als Jahrestag zum Anlass genommen werden, eben diese Handlungsfähigkeiten und die Verantwortung des Einzelnen in Vergangenheit und Gegenwart zu betonen und damit nicht zuletzt auch zum Engagement für unsere Demokratie aufzurufen."

"Wir müssen achtsam bleiben"

Zuvor hatte bereits der Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter die Besucherinnen und Besucher der Gedenkveranstaltung herzlich begrüßt. Reuter vertrat damit die Erste Stadträtin Heike Seibert, die leider kurzfristig erkrankt war.

Reuter stellte fest, dass Antisemitismus leider kein Phänomen der Vergangenheit sei. Deutlich sichtbare Zeichen dafür seien die Anschläge auf Synagogen in Halle und Ulm, der Angriff auf das israelische Generalkonsulat in München oder die Hetzjagd auf Fans von Maccabi Tel-Aviv beim Auswärtsspiel in Amsterdam.

Aktuellen Umfragen zufolge vertreten 20 bis 25 Prozent der Deutschen antisemitische Einstellungen. Reuter nahm das Publikum im Stadtmuseum in die Pflicht: "Wir müssen achtsam bleiben. Wir müssen allen Aussagen in unserem Umfeld widersprechen, die antisemitische Vorurteile enthalten. Setzen Sie sich mit mir dafür ein, dass antisemitische Haltungen geächtet werden, damit solche Pogrome nie wieder stattfinden."

Musikalischer Rückblick auf die Ereignisse

Nach diesen beiden Reden folgte der musikalische Teil des Abends. Das mehrfach mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnete Bremer Ensemble „Die Grenzgänger“ war gekommen, um dieses äußerst ambivalente Datum der deutschen Geschichte in all seinen Facetten aufzugreifen.

In ihrem Konzert präsentierten sie dem Publikum historische Lieder und die dazugehörigen Geschichten. Druckvoll und virtuos berührten Liedermacher Michael Zachcial, Annette Rettich am Cello, Gitarrist Frederic Drobnjak und Felix Kroll am Akkordeon auf unverwechselbare Art und Weise die Zuhörerinnen und Zuhörer und lieferten viele Denkansätze zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Landes. Dabei wechselte das Ensemble in seiner Darbietung nicht nur zwischen den Jahrzehnten und Jahrhunderten, sondern auch zwischen musikalischen Genres.

Das Publikum quittierte dieses überaus gelungene Konzert verdientermaßen mit großem Applaus.

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