Stadtverordnetenversammlung stimmt für den Bau weiterer Rechenzentren

Erweiterung Gewerbegebiet Nord: Koalition setzt Pläne gegen den Willen der Opposition durch

Fast viereinhalb Stunden lang beschäftigten sich die Hattersheimer Parlamentarierinnen und Parlamentarier am vergangenen Donnerstagabend mit dem Bebauungsplans Nr. N116 "Erweiterung Gewerbegebiet Nord". Auf dem etwa 7,3 Hektar großen Areal, das von der A66 im Norden, der L 3011 im Westen und der Mainzer Landstraße im Süden begrenzt wird und an den Hattersheimer Friedhof angrenzt, planen die Unternehmen NTT Global Data Centers GmbH und IONOS SE die Entwicklung eines weiteren Campus für Rechenzentren.

Los ging es um 19.30 Uhr mit der üblichen Fragestunde, die angesichts des brisanten Themas und sehr zahlreich erschienenen Anwohnerinnen und Anwohnern sowie Mitgliedern der neu gegründeten Bürgerinitiative BiENE (Bürgerinitiative im Einsatz für Naturerhalt) erwartungsgemäß ausführlich genutzt wurde. Generell war diese Sitzung der Stadtverordnetenversammlung außerordentlich gut besucht, mehr als vier Dutzend Zuschauerinnen und Zuschauer wohnten der mehr als abendfüllenden Veranstaltung bei. Die eigentlich eingeplanten 30 Minuten für die Fragestunde wurden deutlich überzogen; über eine dreiviertel Stunde lang wurden dabei vor allem Punkte aus dem Fragebogen, den BiENE Mitte April schon an alle Fraktionen verschickt hatte (wir berichteten), noch einmal thematisiert, bevor sich dann die Stadtverordneten bis kurz vor Mitternacht um die neuen Rechenzentren stritten. Um das erwartungsgemäße Ergebnis vorweg zu nehmen: Wie bereits vom zuständigen Ausschuss für Umwelt, Bauen und Verkehr empfohlen, votierte auch diesmal die regierende Koalition, bestehend aus CDU, FDP und FW, geschlossen für den Städtebaulichen Realisierungsvertrag und den Satzungsentwurf zur "Erweiterung Gewerbegebiet Nord", während sich SPD, Grüne sowie die Stadtverordnete Corinna Abel (DIE PARTEI) dagegen aussprachen.

Ebenfalls den Stimmen der Koalition war es zu verdanken, dass es an diesem Abend überhaupt zu einer Abstimmung über beide Punkte zum Bebauungsplan Nr. N116 kam: Nachdem die Sitzung bereits zweieinhalb Stunden angedauert hatte, musste sich das Präsidium der Stadtverordnetenversammlung während einer mehrminütigen Unterbrechung auf das weitere Prozedere einigen. Letztendlich entschloss man sich dafür, das Thema an diesem Abend "bis zum bitteren Ende" durchzuziehen, was dann nochmal eine gute weitere Stunde dauern sollte.

Lebhafte Diskussion über mehrere Stunden

Dirk Staudt (SPD) kritisierte, dass man dem finalisierten Städtebaulichen Vertrag seiner Meinung nach anmerke, "wer dort am längeren Hebel gesessen hat." Es gebe im Vertragswerk "immer wieder Hintertürchen", die es den Rechenzentrumsbetreibern ermöglichen würden, das Ganze nicht so umzusetzen, wie man es aus städtischer Sicht eigentlich gerne hätte. Auch den Standort so nahe angrenzend an den Friedhof bemängelte Staudt: Während der Okrifteler Friedhof demnächst einen neuen Glockenturm kredenzt bekommt, dürfe sich der Hattersheimer Friedhof künftig auf eine hohe Wand in unmittelbarer Nähe freuen, gepaart mit zusätzlichem Lärm durch das Rechenzentrum und nächtlicher Beleuchtung aus Sicherheitsgründen. "Die Vorstellung von einem stillen Ort der Trauer und der Andacht bei der Hattersheimer Stadtregierung muss sich einem da nicht wirklich erschließen", so Staudt. Die Ankündigungen zur Nutzung der Nahwärme der Rechenzentren sind Staudt nach wie vor noch nicht konkret genug; man habe es hier bislang lediglich mit Ideen, Wünschen und Vorstellungen zu tun.

Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Nathalie Ferko, gab zu Protokoll, dass ihre Partei von Anfang an gegen dieses Projekt war, betonte aber gleichzeitig auch, dass man nicht grundsätzlich gegen Rechenzentren sei. So habe man dem Bau eines Rechenzentrums im Kastengrund zugestimmt, weil die Fläche dort ohnehin schon versiegelt ist und es keine Anwohnerinnen und Anwohner gibt, deren Wohn- und Lebensqualität sich dadurch verschlechtert. Und schließlich streitet man auch nicht ab, dass man Rechenzentren im digitalen Zeitalter benötigt. Jedoch sind die Grünen der Ansicht, dass der hier vorliegende Städtebauliche Vertrag nicht gut genug ausgehandelt wurde: Man habe zu wenig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, in diesem Vertragswerk die Bauvorhabenträger zur Einhaltung verbindlicher Festsetzungen zu verpflichten: Fassadenbegrünung und Photovoltaik sollen demnach "wenn möglich und nicht zu erheblichen Mehrkosten" kommen. Man könne in diesem Städtebaulichen Vertrag immer wieder lesen, dass eine Festsetzung im nächsten Satz direkt wieder aufgeweicht werde, so Ferko. Ein Städtebaulicher Vertrag solle von der Stadt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ausgehandelt werden - "aber wir sind der Überzeugung, dass das in dem Fall nicht so ist", begründete die Fraktionsvorsitzende die ablehnende Haltung deutlich.

Ein Versäumnis ist aus Sicht der Grünen auch der Verzicht auf eine Rückbauverpflichtung, falls die Rechenzentren irgendwann einmal ihren Betrieb einstellen und aufgegeben werden. Ferko verwies an dieser Stelle auf die Schnelllebigkeit dieser Branche; die übliche Laufzeit von Rechenzentren betrage lediglich 20 bis 30 Jahre: "Was passiert, wenn der Rechenzentrumsbetreiber das Gebäude verlässt? Was passiert mit der Abwärme, die es dann nicht mehr gibt?" Aus all diesen Gründen appellierte Nathalie Ferko an alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier, "ihre Entscheidung mit bestem Wissen und Gewissen zu treffen" und auch die Folgen der Entscheidung im Blick zu haben.

Bürgermeister Klaus Schindling hob hervor, dass Hattersheim in seiner Geschichte noch nie einen Städtebaulichen Vertrag hatte, der mit derartigen Gegenwerten versehen war. NTT habe der Stadt für die Verlängerung der Heddingheimer Straße deren Gebiet für den dreifachen Preis abgekauft, den man einst beim letztlich gescheiterten Verkauf an Bauhaus erzielt hätte. Das Unternehmen werde diese Straße bauen, mit allen notwendigen Leitungen, Kanälen, etc., ebenso den Leitungen für das Nah- und Fernwärmenetz, einem Gehweg mit Radweg, der Straßenbeleuchtung, und dann gehe die Straße kosten- und lastenfrei an die Stadt zurück. Man spreche hierbei über siebenstellige Summen, so Schindling, zudem eine Million Euro für die Landschaftspflege für 30 Jahre. Gleichzeitig hatte Hattersheim auch noch nie einen Städtebaulichen Vertrag, der mit derart großen Bauwerken verbunden war, räumte Schindling ein und akzeptierte, dass man darüber aufrichtig diskutieren könne - man solle aber nicht so tun, als hätte die Stadt hier schlecht verhandelt.

Bezüglich einer Rückbauverpflichtung hielt Schindling fest, dass dies "keine schlechte Idee", jedoch "sehr innovativ" sei. Eine solche Rückbauverpflichtung sei höchst unüblich, und schließlich könne man ja auch aus eigener Erfahrung in Hattersheim nicht sagen, dass ungenutzte gewerbliche Gebäude ewig vor sich hin verrotten - so beherbergt die ehemalige Phrix nun Wohnungen.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Marek Meyer wies jedoch auch darauf hin, dass die Gebäude der Phrix zuvor jahrzehntelang leer standen und verfallen sind. Und es stelle sich auch die Frage, was man mit einem möglicherweise irgendwann einmal ehemaligen Rechenzentrumsgebäude machen soll. Ein riesiges Gebäude ohne Fenster könne vielleicht ein Logistikunternehmen als Lager nutzen - eine sehr spezielle, begrenzte Aussicht. Die Hattersheimer Sozialdemokraten halten das ganze Projekt für "völlig überdimensioniert", weshalb sie auch gegen die dazugehörigen Vorlagen im Stadtparlament stimmten.

Norbert Reichert stellte als Fraktionsvorsitzender für die FDP fest, dass es seiner Partei bei der Abwägung für und gegen neue Rechenzentren insbesondere um die sich aus der Ansiedlung resultierende Verbesserung der Einnahmensituation der Stadt dank höherer Gewerbesteuereinnahmen gehe. Und das habe nichts mit Gier oder dem Bau von goldenen Bürgersteigen zu tun, sondern man sei auf diese zusätzlichen Einnahmen angewiesen, da man als Kommune vor immer mehr herausfordernden Aufgaben stehe, die von Bund und Land vorgegeben werden und die nur durch höhere Ausgaben gelöst werden können. Selbst der von der FDP geforderte Sparkurs wäre hierfür am Ende nicht ausreichend; man wäre gezwungen, die steuerlichen Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger deutlich zu erhöhen.

Oliver Wiendl (FW) betonte, wie zuvor auch schon der CDU-Fraktionsvorsitzende Michael Minnert sowie der CDU-Stadtverordnete Andreas Endler, dass man die neu gegründete Bürgerinitiative sehr wohl wahrgenommen habe, wie auch deren bemerkenswerte Sammlung von über 1.400 Unterschriften in kürzester Zeit. Deshalb habe man sich als Koalition mit diesen Sorgen und Bedenken auch intensiv auseinandergesetzt. "Und das war nicht nur eine Sitzung", betonte er. Nach der Abwägung aller Fakten und der "politischen Willensbildung zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt", so Wiendl, hat auch die FW-Fraktion dieser Vorlage zugestimmt.

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