Nach einer imposanten musikalischen Begrüßung der zahlreichen Gottesdienstbesucher durch den Posaunenchor Hattersheim/Okriftel erklärte Pfarrer Hans-Joachim Wach den Gläubigen, dass der Reformationstag für ihn auch immer ein ökumenisches Fest ist: „Wir feiern heute, dass Kirche nicht stehengeblieben ist! Luther hat auch in der katholischen Kirche viel bewegt, einige seiner Forderungen von damals in Bezug auf die Rechtfertigungslehre sind bis heute umgesetzt worden.“
Zur Lesung des Psalms 23 forderten Pfarrer Wach und Pfarrerin Marlene Hering die Kirchenbesucher dann zu einer ungewöhnlichen Aktion auf: „Wir wollen heute versuchen, dem Gottvertrauen nachzuspüren“, kündigte Marlene Hering an, bevor sie dazu aufforderte, man möge sich einen Partner suchen und sich von diesem mit geschlossenen Augen durch den Kirchenraum führen lassen. „Der eine führt, der andere vertraut“, beschrieb sie die Situation, die entstand, als viele solcher Paare in verschiedenen Zusammensetzungen durch die Kirche gingen und dabei fast die ganze Gemeinde in Bewegung kam. „Vielleicht haben sie es bemerkt – das Heilige bewegt sich so, vom Altarraum in die gesamte Kirche, wir bekommen so eine Ahnung von Gottvertrauen“, stellte die Pfarrerin zufrieden am Ende fest.
In Hinsicht auf die von Martin Luther in seinen Thesen geforderte Buße, die alle Gläubigen tun sollen, räumte die Pfarrerin mit einem Missverständnis auf: „Luther meinte eigentlich, man solle sich frei machen von Selbsthass und von Zweifeln, von dem, was zwischen den Gläubigen und Gott steht – er wollte nicht, dass alle immer 'büßen' und sich schuldig fühlen sollen.“ Sie untermauerte dies mit dem bekannten „Trostwort“ Martin Luthers: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden,(...) Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“
„Was uns zum Mensch macht, ist die Liebe, die Gott uns Menschen eingehaucht hast und die uns nicht mehr genommen werden kann“, bekräftigte Pfarrerin Hering.
Die Lesung und der Predigttext des Gottesdienstes beschäftigte sich mit Römer Kapitel 3, Verse 21 bis 28, dessen Worte Marlene Hering auch in die „gerechte Sprache“ übersetzt der Gemeinde vortrug. „Das ist eigentlich die größte Hymne an die Freiheit, die ich je gehört habe“, stellte die Pfarrerin in Bezug auf diesen Text fest, „und es tut so gut, das wir Tage haben, an denen wir die Freiheit eines Christenmenschen feiern können!“ Dass der Text schwer zu verstehen sei, habe auch schon Luther einst festgestellt – bis ihm bei seinem berühmten „Turmerlebnis“ die Erkenntnis darüber kam und ihm die Kraft gab, die er wohl sonst nicht gehabt hätte, sich sogar vor den Kaiser zu stellen und zu sagen: „Hier steh ich nun und kann nicht anders!“
„Diese Kraft bewirkte vor allem eines – Freiheit!“, meint Pfarrerin Hering. Denn Freiheit in Glaubenssachen, so wie sie heute üblich ist, gab es zu Luthers Zeiten nicht, damals bestimmte der Landesherr, was man zu glauben hatte, ein Beispiel dafür war lange Okriftel als evangelische „Enklave“ zwischen den umliegenden katholischen Gemeinden. „Heute ist es leichter, sich in seinem Glauben zu positionieren“, weiß die Pfarrerin, „dabei sind wir alle eins – auch mit unseren katholischen Geschwistern!“ Luther habe damals die Kirchenspaltung nicht gewollt, er war eigentlich nur ein „kleiner Mönch“. „Aber er konnte wohl das Maul aufreißen wie kein anderer seiner Zeit“, stellte Marlene Hering schmunzelnd fest, „und ihm war allein die Beziehung zu Christus und nicht der Ablass und ähnliche Dinge seiner Zeit wichtig!“
Heute könnten evangelische und katholische Christen das, was damals zur Kirchenspaltung geführt habe, getrost hinter sich lassen, ist sich Marlene Hering sicher. „In der gemeinsamen Erklärung beider Kirchen zur Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 wurde schon festgestellt, dass auch die katholische Kirche sich in Bezug darauf geändert hat. Es ist Zeit, dass wir als Kirchen unsere Konsequenzen daraus ziehen, in einer Welt, die sich überhaupt nicht mehr für solch einen dogmatischen Streit interessiert“, erklärte Marlene Hering in ihrer Predigt. Sie sprach auch die vielen Ansprüche an, denen sich Menschen in unserer Zeit nicht nur in beruflicher, auch in persönlicher Hinsicht ausgesetzt sehen und die sich auf sie bis hin zum Burn-out auswirken. „So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne die Gesetze, allein durch seinen Glauben, so heißt es bei Paulus. Auf unser heutiges Leben angewendet heißt das: Du darfst einfach sein, du musst nicht vorher was geleistet haben“, erklärte die Pfarrerin, „nicht nur die Kirche, sondern unsere ganze Gesellschaft braucht eine Revolution! Gott will uns den Druck nehmen, das ist die Botschaft der Reformation.“
Dass während des Gottesdienstes auch das Reformationslied „Ein feste Burg ist unser Gott“ gemeinsam gesungen wurde, ist selbstverständlich, in Okriftel wurden die Kirchenbesucher dabei von Posaunenklängen unterstützt.
Pfarrer Wach und Pfarrerin Hering konnten die Gemeinde dank der Hilfe „fleißiger Bäckerinnen und Bäcker“ zu einem Abendmahl und einer Agape-Feier mit „richtigem“ Brot einladen, zum gemeinsamen Plaudern am Ende der Feier wurden selbst gebackene „Lutherkekse“, welche Luthers Siegel, die Rose mit dem Kreuz in der roten Mitte („Das Christenherz auf Rosen geht, wenn’s mitten unterm Kreuze steht“), symbolisieren sollen, gereicht.
Beate Kunz und Jürgen Kilb begleiteten das Abendmahl und die Plauderzeit in der Kirche mit wunderbarer Gitarrenmusik. Dass es tatsächlich „Bewegung“ in der Annäherung der katholischen und evangelischen Kirche gibt, wurde am Reformationstag 2016 durch die Meldung eines „historischen Ereignisses“ in der internationalen Presse untermauert: Papst Franziskus stand an diesem tag in Schweden mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Bischof Munib Younan, und mit dessen Generalsekretär Martin Junge gemeinsam am Altar.
Der 31. Oktober 2017 ist zum 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag zum einmaligen bundesweiten gesetzlichen Feiertag erklärt worden.