Der toskanische Holzbub mit dem anarchischen Charakter ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, deren literarischer Wert erst im 20. Jahrhundert deutlich wurde. Die Vielschichtigkeit und Widersprüche in der Geschichtensammlung des Florentiners Carlo Collodi sind für Erwachsene interessanter als für Kinder. Auch schildert Collodi eine äußerst ruppige Welt, in die Pinocchio ausbricht. Eine Welt, die heutige Eltern ihren Kindern nicht unbedingt zumuten wollen.
Und doch gelingt es Künstlern, die Figur auch für das 21. Jahrhundert pädagogisch modern und gleichzeitig interessant aufzubereiten. Manfred Kessler vom Chapiteau-Theater bot am vergangenen Sonntag im Achterbähnchen vor voll besetzten Sitzreihen Kindern und ihren Eltern seine Variante des italienischen Märchens – in einer Ein-Mann-Gala, die die wichtigsten Figuren der Geschichtenreihe in Kesslers Figurenkabinett vereint.
Auch bei „Manege frei für Pinocchio“ beginnt die Geschichte in der Werkstatt des Holzschnitzers Geppetto, der aus dem sprechenden Holzblock, den er geschenkt bekam, eine Marionette schnitzt. Die hat, kaum zu Beinen gekommen, nichts Besseres zu tun als ihrem Papa und Schöpfer davonzulaufen. Bei seinen zahlreichen gefährlichen Abenteuern, in die die Marionette im Buch Collodis vor lauter Starrsinn hineinschlittert, ist ihr frühes Ende absehbar.
Die zahlreichen Figuren, denen Pinocchio begegnet, kann Kessler in der Kürze einer Kindervorstellung natürlich nicht alle auftreten lassen. Er bringt einen Straßenkater – ein übler Genosse, der in seine eigene Mausefalle geht – und einen Zauberer auf die Bühne. Beide wollen der Holzpuppe nichts Gutes. Aber irgendwie entwischt Pinocchio dem schlimmsten Schicksal immer noch gerade so.
Dass Kessler die Aufführung als Zirkusdirektor einleitet und beendet, entspricht dem Selbstverständnis des Chapiteau-Theaters, das Kessler 1984 als Zelttheater gründete. Das ist lustig, wenn man bedenkt, dass die Gustavsburger heilfroh sind, ihr Zirkuszelt wieder gegen den Saal in den Burg-Lichtspielen eingetauscht zu haben. Aber es entspricht auch der erzählten Geschichte: Bei Collodi wird Pinocchio gegen Ende seiner Abenteuer zum Zirkustier gemacht. Das hat mit den grauen Eselsohren zu tun, die ihm plötzlich wuchsen. Monatelang hatte Pinocchio sich dem Lernen in der Schule verweigert, zog lieber mit anderen Kindern durch die Stadt – da war der Holzbub auf dem Holzweg. Wie zur sinnbildlichen Strafe, wachte er plötzlich mit diesen peinlichen Ohren an den Seiten auf und musste in der Manege auftreten.
Bei Kessler endet das Stück natürlich positiv, vier seiner jungen Zuschauer dürfen zum Finale als Seilartisten Saalberühmtheiten werden. Das Hochseil liegt dabei freilich auf dem Boden. Die Kinder balancierten trotzdem so konzentriert auf ihm herum, als ginge es um alles.
Manfred Kessler, in Burgschwalbach im Rhein-Lahn-Kreis zuhause, und Partnerin Beatrice Hutter haben derzeit 13 verschiedene Stücke auf Lager. Im Dezember ist das Chapiteau-Theater, das dann seine Weihnachtsprogramme präsentiert, unter anderem am Nikolaustag (6.) in Wiesbaden mit „Der Weihnachtsmann auf Erdenreise“ zu sehen, auch dies ein Kessler-Soloprogramm. Infos im Internet unter www.chapiteau-theater.de.
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