Angst, in der Zelle vergessen zu werden Lesen und reden – Deniz Yücel im Gespräch mit Klaus Reichert (hr1) in der Flörsheimer Stadthalle

Deniz Yücel, Klaus Reichert von hr1 und Yücels Schwester Ilkay Yücel (v.l.)anlässlich der Lesung in der Flörsheimer Stadthalle.

Lesen und reden – Deniz Yücel im Gespräch mit Klaus Reichert (hr1) in der Flörsheimer Stadthalle

In seinem Buch „Agententerrorist – Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtdemokratie“ erzählt Yücel über die Zeit seiner Gefangenschaft und die politische Entwicklung in der Türkei. Als „Agententerrorist“ hatte ihn der türkische Präsident Erdogan, quasi in einer Vorverurteilung, bezeichnet. Deniz Yücel folgte der Einladung von Jasmina Djordjevic, Inhaberin der Flörsheimer Buchhandlung Bärsch, die ihn während der Buchmesse angesprochen habe. Über 230 Karten wurden vorab verkauft, das Interesse der Bürgerinnen und Bürger war groß. Es galt Sicherheitsvorschriften einzuhalten, Polizei und Security sorgten für die Einhaltung der gegebenen Auflagen.

Der in Flörsheim gebürtige Journalist Deniz Yücel war von 2017 bis 2018 im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 bei Istanbul in Haft. Verhaftet wurde er unter dem Vorwurf mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Datenmissbrauch und Terrorpropaganda. Mit – laut seinen Worten – „ganz viel gefühlter Ungerechtigkeit“ wurde er konfrontiert, „schließlich ist Journalismus kein Verbrechen“. Deutschlandweit löste die Verhaftung eine Welle der Solidarität aus. Die deutsche Regierung wurde nachdrücklich aufgefordert, entschlossen für die Meinungsfreiheit und die Freilassung Yücels einzutreten. Flörsheim war hierbei führend und prägend, signalisierte in unzähligen Aktionen Solidarität mit Yücel. Diese Solidarität mit der Aktion ‚Free Deniz‘ habe ihm, dem „Problemsohn der Stadt“, der zum Spielball internationaler Politik wurde, stets Kraft gegeben.

Dass er so lange in seiner rund sieben Quadratmeter kleinen Zelle in Haft bleiben müsse, davon ging er zu keiner Zeit aus. Er rechnete stets in Monaten, nicht in Jahren. Gab es in der Zeit seines Polizeigewahrsams noch Möglichkeiten, irgendwie Kontakt nach außen zu halten, so war es ihm im Hochsicherheitsgefängnis nahezu unmöglich: „Es geht nicht darum, gefangen zu sein, sondern darum, dass man sich nicht ergibt." Er, der den Mächtigen auf die Finger schaut, erschien plötzlich selber in den Nachrichten: „Ich war zwar in Isolationshaft, doch ich war niemals allein.“ In Momenten der Selbstbehauptung versuchte er, die Zeit irgendwie unbeschadet zu überstehen. Schreiben habe ihm während der Zeit seiner Inhaftierung geholfen, auch wenn dazu Soße und eine Gabel als Federkiel herhalten mussten. Der Mangel an Papier sei das größte Problem gewesen, erzählte Yücel.

Seine ganz persönlichen Eindrücke über Mitgefangene, grotesk bis berührend, hat Deniz Yücel in seinem Buch eingefangen und festgehalten. Seit mehr als sieben Wochen ist er nunmehr auf Reisen, um sein Buch vorzustellen, beginnend mit der Vorpremiere in der JVA Moabit, dann in Berlin und schließlich auch in Flörsheim. Er las Passagen aus seinem Buch vor, doch es war deutlich zu spüren, dass ihm das Reden wesentlich leichter fiel. Klaus Reichert von hr1, der Yücel moderierend zu Seite stand und viele Fragen vorbereitet hatte, gelang es kaum, bei Yücels Erzählungen zu Wort zu kommen. Er bat Yücels Schwester Ilkay Yücel auf das Podium, damit sie ihre ganz persönliche Sicht und ihre Empfindungen zum Geschehen ‚von außen‘ wiedergeben konnte. Die Erzählungen darüber, wie Yücel mit festem Willen das Jahr seiner Haft überstanden hat, und was seine Aversion gegen das Wort „JA“ und die „Petersilienfrage“ mit seiner Hochzeit im Gefängnis zu tun hat, verfolgten die Gäste an diesem Abend gebannt, an manchen Passagen auch betroffen schweigend.

Am 16.02.2018 wurde Yücel aus dem Gefängnis entlassen und kehrte nach Deutschland zurück. „Ich bin Deutscher, Hesse und Flörsheimer und doch bin ich auch dem türkischen Land verbunden“, betonte er, der 1991 eingebürgert wurde. „Gefängnis ist für mich weniger ein Ort, an dem ich nicht raus kann, wann ich will, als ein Ort, an dem die Macht zu mir rein kann, wann sie will. Aber müsste ich die Frage, wie ich die Zeit im Gefängnis verbracht habe, mit einem einzigen Wort beantworten, es würde ‚kämpfen‘ lauten.“

Wer ein von Deniz Yücel persönlich signiertes Buch erwerben wollte, musste sich im Anschluss an den Vortragsabend in einer langen Schlange gedulden.

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