Von Bauern, Bürgern und Soldaten

Vortrag des Landesarchäologen Dr. Udo Recker in der Heinrich-Böll-Schule

Das Grabungsteam der Grabungsstätte „Hattersheim Südwest CD“ war zum Vortrag des Landesarchäologen Dr. Udo Recker ebenfalls in die HBS gekommen (Dr. Recker mit Anzug und Schlips).    ?(Fotos: A. Kreusch)

 

HATTERSHEIM (ak) – 6.000 Jahre Menschheitsgeschichte sind in Hattersheims Erde dokumentiert – an vielen verschiedenen Ausgrabungsstätten konnten Archäologen inzwischen 400 Kisten mit Funden aus Hattersheim füllen. „Das sind aneinandergereiht etwa 160 Meter mit Funden aus Ihrer Stadt!“, stellte der stellvertretende Landesarchäologe Dr. Udo Recker zu Beginn seines Vortrags „Von Bauern, Bürgern und Soldaten“ am Montag, dem 7. Juli, im Oberstufengebäude der Heinrich-Böll-Schule (HBS) zufrieden fest.
Bevor Dr. Udo Recker auf die neuesten Fundstücke aus Hattersheim vom Grabungsfeld „Süd-West CD“ direkt gegenüber der HBS einging, nahm er die Zuhörer mit auf eine rasante Reise durch ein halbes Dutzend Jahrtausende. Er schilderte und zeigte mittels einer PC-Präsentation einige in Hattersheim auf dem ehemaligen Sarotti-Gelände und nun im Gebiet „Süd-West CD“ gefundene Stücke aus der Michelsberger Kultur (4400 bis 3500 vor Christus), die nach seinen Worten eher „Kapellenberg-Kultur“ hätte genannt werden müssen, da die bedeutendsten Funde aus dieser Ära am Hofheimer Kapellenberg gemacht wurden.

 

„Und die Hattersheimer Funde aus dieser Zeit – wie Hockergräber mit ihren Beigaben und Reste von Tulpenbechern – sind sicher als solche von einem 'Vorfeld' des Kapellenberges anzusehen“, meinte Dr. Recker. Auch bronzezeitliche Funde wurden einige in beiden oben genannten Ausgrabungsgebieten in Hattersheim gemacht: Hier kann an der Art und Weise der Hockerbestattungen ein sozialer Unterschied der Verstorbenen abgelesen werden, offenbar höher gestellte Mitglieder der Gemeinschaft wurden unter Erdhügeln begraben. Ein Zeichen für die organisatorische Leistungsfähigkeit der Menschen dieser Ära ist das Herstellen von Bronze: Deren Grundstoffe Kupfer und Zinn kommen nicht zusammen vor, der „Import“ von Zinn aus weit entfernten Vorkommen ist ein bemerkenswertes Phänomen dieser Zeit.
Nachweise für „bürgerliches Leben“ aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, in der Städte gegründet wurden und sich ein „Bürgertum“ herausbildete, finden sich an allen Ausgrabungsstätten in Hattersheim. Insbesondere bei der letzten Grabung im Gebiet „Süd-West“ wurden einige Gruben mit Gebrauchskeramik gefunden.
Ebenso aus der frühen Neuzeit, der Neuzeit, der Frühmoderne und der Moderne, aus der Zeit der Französischen Revolution und den Zeiten beider Weltkriege fanden sich Relikte bürgerlichen Lebens im Hattersheimer Boden. Besonders hervorzuheben ist dabei die Entdeckung eines Verbindungsstückes des „Rheingauer Gebücks“ und der „Frankfurter Landwehr“ (beide gegen „räuberische Bergbewohner aus dem Taunus“ Ende des 15. Jahrhunderts errichtet) auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik. Ein Wegname „Auf dem Landwehr“ ist auf alten Hattersheimer Karten eingetragen, seinen Ursprung hat man damit nun gefunden.
Rätsel geben den Archäologen noch zahlreiche rechteckige Gruben auf, die zwischen sechzig Zentimetern und drei Metern lang und zwischen zehn Zentimetern und zwei Metern tief sind. Diese Gruben enthalten wenige Fundstücke, manche haben einen abgetreppten Zugang und sie wurden offenbar bald nach ihrem Ausheben wieder mit der ursprünglichen Erde verfüllt. Zwei Mutmaßungen, was mit diesen Gruben in ihrer Zeit wohl bezweckt worden ist, gibt es, aber beide sind nicht wirklich schlüssig: Gegen die Annahme, es könnten Annäherungshindernisse für Kavallerie (sozusagen „Stolperfallen“ für Pferde) sein, sprechen die sehr unterschiedlichen und manchmal zu diesem Zweck doch unwahrscheinlichen Maße. Ob vielleicht der auf alten Karten zu findende „Wingertsweg“ für einen Weg, der durch dieses Gebiet führt, der Hinweis dafür ist, dass es sich um im Weinbau gebräuchliche „Setzgruben“ handelt, kann aber auch nicht wirklich nachgewiesen werden. „Da müssen wir wohl noch mehr alte Flurkarten und Schriftstücke zu Rate ziehen, um das herauszufinden“, meinte Dr. Recker.
Viele Funde von „neuzeitlichen“ Hattersheimer Bürgern wurden im Ausgrabungsgebiet „Süd-West“ gemacht: Neben sogenannter „Bauernkeramik“ wurde auch eine keramische Mineralwasserflasche gefunden, ebenso (sogar dank des in der heute noch existierenden Firma geführten Archivs über den Stempel in die Jahre 1840 bis 1860 datierbares) Porzellan der Marke Villeroy und Boch und auch zum Beispiel ein Kreuzer aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein besonderer Fund ist eine Grube mit Öfen, von denen allerdings noch nicht festgestellt wurde, was darin gebrannt wurde – ihre Lage direkt an einem Weg lässt allerdings darauf schließen, dass mit den Produkten gehandelt wurde. Etwas unheimlich mutet ein Fund ebenfalls aus der Zeit zwischen 1840 und 1860 an: Ein menschlicher Schädel, der an seiner breitesten Stelle offensichtlich aufgesägt worden ist, wurde in „Hattersheim Süd-West“ gefunden. Auch die Ausgrabung von mehreren Schädeln mit sehr flacher Stirn und damit keines europäischen Typus wirft noch Fragen auf.
Die Anwesenheit von „Soldaten“ auf Hattersheimer Boden kann von der Eisenzeit (Hallstattzeit, Latenezeit, etwa 800 bis 450 vor Christus bis zum Ende 100 vor Christus) in die Neuzeit nachgewiesen werden. Aus der Zeit, aus der etwa auch die keltischen Funde auf dem Glauberg stammen, wurde in Hattersheim die größte eisenzeitliche Nekropole seit Ende der 90er-Jahre „modern“ ausgegraben. Bei den in Hattersheim Bestatteten handelt es sich zum Teil um „normale“ Bauern, aber auch um „Schwertträger“. Dass es damals schon ein soziales Gefüge gegeben hat, in welchem Kontakte vom Glauberg bis nach Hattersheim möglich waren, beweisen die Gräber dieser „Repräsentanten“ der Glauberger Oberschicht mit ihren fantastischen Grabbeigaben in Form von Keramik und Schmuck. Zwei imposante Kreisgraben-Anlagen mit einem Durchmesser von jeweils etwa 15 Metern zeugen laut Dr. Udo Recker davon, dass diese Hattersheimer Grabanlagen einst „nicht für Kreti und Plethi gedacht“ waren. In Bezug auf die Anwesenheit von napoleonischen Soldaten auf Hattersheimer Boden bleibt Dr. Udo Recker dabei: „Napoleon war definitiv hier, nach der Schlacht von Hanau und vor der Rückkehr auf französisches Gebiet, auch wenn wir doch leider keine Spuren eines großen Soldatenlagers gefunden haben.“ Gefunden aber wurden Flintsteine, wie sie die damalige napoleonische Armee zentral einkaufte und wie sie alle ihre Soldaten verwendeten, außerdem Stoffreste, die offenbar von einem französischen „Tschako“, der Kopfbedeckung der Soldaten damals, stammt. Dabei handelt es sich um ein längliches Stück Stoff, welches an der Längsseite mehrfach durchlocht ist. Die einzelnen Fäden des Gewebes wurden mit Draht umwickelt, es handle sich also um einen sehr aufwendig hergestellten Stoff, ähnlich dem Brokat. Eine Farbanalyse wird zurzeit durchgeführt, danach wird man wissen, ob es sich vielleicht sogar um den Goldbrokat am Hut eines Offiziers handelt. „Wenn der französische Hut hier ist, muss auch sein Träger hier gewesen sein“, ist sich Dr. Udo Recker sicher. Auch ein Soldaten-Abzeichen aus der Zeit wurde in Hattersheim gefunden. Die im Grabungsfeld „Süd-West“ gefundenen Kuh-Skelette und das Gerippe eines Pferdes stellten sich inzwischen aber als „nicht vom Franzosenhunger verursachte“ Überreste heraus, sie wurden wohl von Hattersheimer Bauern selbst dort vergraben. „Das wäre auch zu schön gewesen, wenn wir Spuren eines Franzosenlagers hier hätten entdecken können – aber solche Lager sind ganz allgemein nur sehr schwer nachzuweisen, die Wahrscheinlichkeit, solch ein Lager archäologisch zu fassen, ist sehr gering“, bedauerte Dr. Recker zwar, versicherte im gleichen Atemzug aber auch: „Das schmälert dennoch nicht die archäologische Bedeutung von Hattersheim – 6.000 Jahre Menschheitsgeschichte sind schon okay, da kommt es auf weitere 100 Jahre nicht an!“
Nächstes Jahr um diese Zeit möchte der stellvertretende Landesarchäologe schon sehr gerne wieder in Hattersheim graben: „Vier bis fünf Hektar hat das von uns nun anvisierte neue Grabungsgebiet im Bereich der Volta-Straße – wir haben es schon voruntersucht und es sieht archäologisch vielversprechend aus, alles andere hätte uns auch sehr gewundert“, freut er sich auf die nächste Grabung in unserer Stadt. „Vielleicht finden wir ja doch noch die Siedlung zum Hattersheimer Gräberfeld!“ Da das eher unwahrscheinlich ist – die Siedlung wird dort vermutet, wo sich der alte Hattersheimer Ortskern befindet – ergänzt er lachend: „Man wird ja noch träumen dürfen!“
Im Anschluss an seinen Vortrag diskutierten die Zuhörer noch mit ihm und dem Grabungsteam der Grabungsstätte Südwest über eine mögliche Verwendung der geheimnisvollen rechteckigen Gruben – aber auch hier konnte keine überzeugende Erklärung gefunden werden, in der Beziehung bleiben die Hattersheimer Funde weiter rätselhaft.

 

 

 

 

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