„Diese Bilder sind ein Zeichen dafür, dass wir vorsichtig damit sein sollten, Menschen aufgrund ihres Aussehens zu beurteilen – sie zeigen uns, wie wichtig die Intention des Hauses St. Martin ist, niemanden auszugrenzen. Teilen und teilhaben lassen, das ist das äußere Anzeichen des Namens dieser Einrichtung, hier soll eine Brücke geschlagen werden zwischen den Menschen, Solidarität und soziale Wärme sollen im Gemeinwesen geschaffen werden. Wir freuen uns ganz besonders, dass Antje Köster heute dieser obdachlosen Frau ihre Stimme leiht, weil wir alle wissen, welche aufrichtig soziale Grundeinstellung sie hat“, freute Vorländer sich in seiner Begrüßung auf die Lesung.
„Mir fällt es schwer, heute hier zu reden, mich hat das Buch emotional sehr berührt – es geht darin um eine Frau, die in meinem Alter ist, die auch einmal einen Job, ein Haus und ein gutes Leben hatte. Plötzlich steht sie auf der anderen Seite, und man kann in der Geschichte sehen, wie schnell das gehen kann“, stellte Antje Köster ihrer Lesung voran. „Ich bin sehr froh und stolz, dass wir das Haus St. Martin hier in Hattersheim haben, in das Leute kommen können, denen es nicht so gut geht. Mein großer Dank gilt auch ganz besonders dem Team um Klaus Störch, welches mit seiner Arbeit hier am Autoberg immer wieder Brücken zwischen den Menschen zu schlagen weiß!“
Die Hattersheimer Bürgermeisterin schilderte, dass sie sich beim Lesen des Buches immer wieder dabei ertappte, wie sie Zeilen aus dem im Buch immer wieder zitierten Song „Streets of London“ sang – das Lied und das Buch vermitteln beide ein gutes Bild von der großen Stadt und ihren obdachlosen Menschen. Die Kapitel des Krimis, die Klaus Störch mit ihr zusammen als Vorlesestoff für die Lesung ausgesucht hatte, standen zwar nicht in unmittelbarem Zusammenhang miteinander und mit der Krimistory, aber sie beschreiben das Leben der „Lady Bag“, der Frau, die all ihre Habe in einem Koffer und einem Einkaufswagen mit sich führt, besonders gut.
Dementsprechend waren auch die Reaktionen der gefesselt zuhörenden Gäste des Abends: Gerade wegen der gar nicht weinerlichen, sondern pragmatisch pointierten und fast sachlichen Schilderung, mit der „Lady Bag“ selbst von ihrem Werdegang, ihrem Leben und ihren Gefühlen in der Geschichte von Liza Cody erzählt, ist man als Leser oder Zuhörer immer wieder ganz besonders berührt, bestürzt, manchmal gar entsetzt. Nicht etwa, weil Lady Bag ihr Leben als furchtbar und aussichtslos beschreibt (Das macht sie gar nicht!), sondern weil einem vor Augen geführt wird, welche unvermeidbaren Konsequenzen manche Schicksalsschläge oder auch nur falsche Entscheidungen, die getroffen werden, in einem einmal eigentlich „ganz normalen“ Leben zur Folge haben können. Dass Antje Köster das wütend machte, kam in ihrer Stimme immer wieder zum Ausdruck – überhaupt las die Bürgermeisterin sehr engagiert und ausdrucksstark, die eine oder andere davon gefesselte Zuhörerin konnte dabei ihre Tränen nicht zurückhalten.
„Beim Lesen dieses Buches fühle ich mich an manchen Stellen wie eine Schauspielerin, die sich in ihre Rolle hineinsteigert – ich habe sogar angefangen, einen Hass zu entwickeln, den ich sonst eigentlich gar nicht in mir trage“, versuchte die Bürgermeisterin selbst zu erklären, warum es ihr so mühelos gelang, ihre Zuhörer etwa bei der Schilderung des „Teufels“ zu fesseln.
Bei aller realitätsnahen Schilderung des Lebens einer obdachlosen Frau in London ist der Krimi von Liza Cody keineswegs ohne Humor, ganz im Gegenteil, Lady Bag schildert ihr Leben und die Erlebnisse, die es ihr beschert, immer mit erstaunlicher Frische, fast als ob sie sich selbst von außen betrachtet. Ob sie über ihr „Zusammenleben“ mit der – ebenfalls „obdachlosen“ – früheren Rennhündin „Elektra“ philosophiert, die oft eher eine Spende erhält als sie selbst, ob sie ihr Aufwachen im Krankenhaus, nachdem sie übel zusammengeschlagen wurde, schildert oder ihre „Flucht“ daraus im Bademantel und mit fünf Zentimeter zu kleinen (weil der Bettnachbarin geklauten) Hausschuhen, oft huschte den Zuhörern ob der Absurdität der dennoch glaubhaft real beschrieben Situationen ein zustimmendes, wenn auch erstauntes Lächeln über das Gesicht. Jedem im Haus St. Martin wurde dabei bewusst, dass Lady Bag nur so sein konnte, weil sie einfach die Hoffnung auf ein anderes, „besseres“ Leben endlich aufgegeben hatte. Sie ist nämlich nun der Ansicht: „Ganz unten angekommen zu sein ist eine Erlösung – man wird erst frei, wenn man keine Hoffnung mehr hat; es ist der Kampf um das ,Normalsein', der uns auffrisst.“ Ihr ist klar, dass sie keine „anständige Person“ mehr sein kann, auch wenn sie das nach der Entlassung aus dem Gefängnis anfangs wieder versucht hatte. „Dass ich keine ,anständige Person' mehr bin, konnte man sehen – vielleicht sogar riechen, so wie ich selbst das riechen kann, jeden Tag“, weiß „Lady Bag“ mittlerweile selbst.
Dass man Obdachlosigkeit nur dann sehen kann, wenn jemand gezwungen ist, tatsächlich auf der Straße zu leben, bewiesen allerdings die Porträts von Ann-Katrin Kamphausen an den Wänden: Frisch gewaschen und frisiert, alle gleich mit einem hellen Trägerhemd vor einem grauen Hintergrund fotografiert ist es unmöglich, aus den 26 abgebildeten Frauen die sechs heraus zu finden, die obdachlos sind.
„Das ist bewegend und auch erschreckend, was in dem Krimi beschrieben wird“, waren sich alle Zuhörer des Abend einig – und schauten fast ein bisschen betroffen auf das schöne kleine Buffet, welches man im Haus St. Martin für sie hergerichtet und auch mit gutem roten Spätburgunder ergänzt hatte – während „Lady Bag“ im Krimi versuchen musste, ihre (endlich) hoffnungslose Situation mit billigem „Algerischem Roten“ ein bisschen erträglicher zu machen. Dass Antje Köster ein Kapitel mehr lesen musste, als eigentlich für den Abend geplant war, sprach dafür, wie beeindruckend die Lesung war. Selbstverständlich wurde der Ausgang nicht verraten – aber die Neugier darauf war bei allen Zuhörern geweckt!
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