In diesem Jahr jährt sich das Ende des zweiten Weltkriegs zum achtzigsten Mal. Bernd Caspari hat zu vielen Gelegenheiten, beispielsweise bei Geburtstagsfeiern, Menschen getroffen, die mit ihm über ihre Erinnerungen an den Krieg gesprochen haben. Er selbst war zum Kriegsende gerade fünf Jahre alt geworden, hat aber auch noch eigene Erinnerungen an diese Zeit. Die eigenen Erlebnisse, die Erzählungen der Zeitzeugen und -zeuginnen und die Ergebnisse seiner Recherchen fasste er in einem subjektiven Bericht zusammen, den er dem Stadtarchiv Hattersheim zur Verfügung gestellt hat.
Am Tag des Kriegsendes, am 8. Mai 1945, sei es sehr ruhig gewesen in Okriftel, berichtete er im Gespräch, kaum jemand sagte ein Wort, auch in der Schule hätten die Schüler nichts mitbekommen.
Das Ende deutete sich an
Schon 1944 wussten alle, dass der Krieg zu Ende ging. Aussprechen durfte man dies aber auf keinen Fall. Casparis Mutter hatte ein schlimmes Erlebnis. Ein Gespräch mit ihrer Schwägerin zu dem Thema baldiges Kriegsende war belauscht worden. Daraufhin drohte ihr der NSDAP-Ortgruppenleiter Oskar Schneider mit der Verhaftung, falls sie sich noch einmal so äußern würde. Auch über Bernd Casparis Schwester Helga wurde durch eine Schullehrerin Druck ausgeübt, was schließlich dazu führte, dass die Mutter widerwillig Mitglied der NS-Frauenschaft wurde, in der sie aber niemals aktiv war.
Insgesamt wurde die Verpflegungssituation für die Menschen immer schwieriger. Von einigen Zwangsarbeitern wurde berichtet, dass sie in die Cellulose- und Papierfabrik eingedrungen seien und durch das Trinken des dort produzierten Methylalkohols den Tod fanden.
Zunehmende Bombardements waren an der Tagesordnung. Paul Schmidt berichtete als Augenzeuge über einen großen Bombenangriff an Heiligabend 1944 um die Mittagszeit, bei dem insgesamt 198 Bomben fielen und sowohl die Engelsmühle (Ölmühle) wie auch der Okrifteler Mühlengraben getroffen wurden.
März 1945: Die Alliierten kommen
Am 22. und 23. März 1945 überquerten die Alliierten bei Oppenheim den Rhein. Die NSDAP-Getreuen wollten retten, was zu retten war. Ortsgruppenleiter Schneider soll angeordnet haben, auf den Kamin der Fabrik in Okriftel zu schießen, dadurch kam Philipp Kaul am 26. März 1945 zu Tode, als er von einem Granatsplitter getroffen wurde. Das deutsche Schiff Baden-Baden 17 wurde an seinem Landungsplatz versenkt. Trotzdem eroberten die Amerikaner nach und nach das Gebiet. Als sie auf der B43 Richtung Kelsterbach fuhren, schoss die Flak auf die Panzerkolonne. Daraufhin wurden beim Beschuss der Flakstellung durch einen amerikanischen Panzer zwei 17-jährige Flakhelfer getötet, die am Burgleweg begraben wurden. In Okriftel bezogen die Amerikaner die Bonnemühle. Im April nahm sich der Ortsgruppenleiter Oskar Schneider mit seiner Frau mit Zyankali das Leben.
Die Zeit direkt nach dem Krieg
„Es begann nun die gesetzlose Zeit“, kann man in Casparis Bericht nachlesen. Die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter entfernten sich aus den Unterkünften und suchten nach Essen. Auf der Straße von Okriftel nach Sindlingen trieben sich allerhand Leute herum, so dass das Passieren lebensgefährlich war. Karl Löw wollte nach dem Kauf von Holz in Kelsterbach seinen Weg zu Fuß fortsetzen, kam aber niemals zu Hause an. Er wurde Ende Mai 1945 erschlagen unter Matratzen in einer Baracke gefunden.
Bernd Caspari erinnert sich an die Drohgebärden ehemaliger Gefangener, denen er gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester bei einer Fahrt nach Höchst begegnete. Aber es gab auch positive Momente, besonders für Kinder. Gerne denkt Caspari an die Begegnung mit einem schwarzen Amerikaner zurück. Dieser schenkte ihm Süßigkeiten, was für ihn „ein wunderbares, großartiges Geschenk“ war.
Militärregierung und „Schroddelzeit“
Die Militärregierung setzte Georg Feih als Bürgermeister und Otto Geiss als Polizist ein. Die Gemeindeverwaltung hatte sich nach den Anordnungen der Besatzer zu richten. So mussten beispielsweise alle Fotoapparate, Ferngläser, lange Messer, Luftgewehre, Volksempfänger, Hitlerbüsten und ähnliches im Rathaus abgegeben werden.
In der „Schroddelzeit“ blühte der Schwarzmarkt, wobei der größte in Zeilsheim war. Man lebte nach dem Motto „Haste was, bekommst du was“. Die kalten Nachkriegswinter verschärften die Situation der Bevölkerung. Um die Kinder über Wasser zu halten, gab es Schulspeisungen, in Okriftel zubereitet und ausgegeben von Hedwig Arnold und Margarethe Rudolf.
Weitere Entwicklung
1945 lebten in Okriftel 1849 Einheimische und 150 Evakuierte aus Frankfurt. Bis 1948 wuchs die Zahl der Einheimischen nur um 14 Menschen auf 1863, aber 248 Evakuierte und 499 Flüchtlinge zählten nun zu der Bevölkerung in Okriftel. In der Nachbarschaft der Familie Caspari wurden sogenannte Donauschwaben einquartiert. „Oma-Schwab“ schenkte Bernd Caspari gestrickte, mit Blumen bestickte Hausschuhe. Das ist eine sehr schöne Erinnerung für ihn, denn der kleine Bernd war damals sehr stolz auf seine schönen Pantoffeln.
Im Sommer 1946 kehrte Karl Caspari, der Vater von Bernd Caspari, aus britischer Kriegsgefangenschaft nach Okriftel zurück. Das war für beide, Vater wie auch Sohn, keine einfache Situation. Bernd Caspari konnte sich kaum an seinen Vater erinnern, da dieser nur einmal während des Krieges zu Besuch gekommen war. Damals war Bernd erst zwei Jahre alt. Noch heute erinnert er sich, dass er nach dem Krieg seine Mutter gefragt habe, ob „dieser Mann“ ihm etwas zu sagen habe. Vater Caspari fand Arbeit in der Kantine eines Frankfurter PX-Marktes, einem Einkaufzentrum für US-Soldaten, Veteranen, Reservisten und deren Angehörige.
1949 wurde die Okrifteler Cellulosefabrik an die Familie Offenheimer zurückübertragen, die sie an die Phrix AG verkaufte. Die gesamte Familie Offenheimer war 1938 in die USA geflohen.
Ebenfalls 1949 wurde zur Hebung und Reparatur der Baden-Baden 17 der Main in Griesheim gestaut und über Eddersheim abgelassen, was für alle Zuschauer ein gewaltiges Schauspiel war.
Einige Menschen fanden in Okriftel eine bleibende Heimat. So Agnes Bosek aus Polen, die unter dem Namen „Gussi“ bekannt war und in Okriftel eine Familie gründete. Auch der ehemalige Kriegsgefangene Nikolai Litwinov bekam einen Pass, heiratete und baute sich ein Haus in der Saalburgstraße.
Bernd Casparis Bericht endet mit den Worten: „Mir ist es ein Anliegen, die Erinnerung an diese Zeit zu wahren und durch diesen Bericht einen Zugang zur Geschichte meiner Generation und der meiner Eltern zu ermöglichen“.
Kommentare