Deutschland als Prime Target für hybride Angriffe

"Zeitenwende on tour": Vielschichtige Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern in der Hofheimer Stadthalle

Christoph Heusgen, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, begrüßte die prominenten Diskussionsgäste und das Publikum.

Ein kurzer, kommentarloser Videoclip machte direkt deutlich, worum es beim Townhall-Event "Zeitenwende on tour" in Hofheim am Mittwochabend der vergangenen Woche gehen sollte: Gezeigt wurden aktuelle Kriegsszenen aus vielen Ländern, vom Sudan bis zur Ukraine.

Christoph Heusgen, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, begrüßte etwa 100 interessierte Bürgerinnen und Bürger in der Stadthalle. Seit zwei Jahren ist die Münchner Sicherheitskonferenz in Zusammenarbeit mit der Alfred Landecker Foundation unterwegs in Deutschland, um mit der Bevölkerung in Dialog zu treten und diese mitzunehmen in die "Zeitenwende", die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 ausgerufen hatte - drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Heusgen erinnerte einleitend daran, dass damit erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Land in Europa von einem anderen angegriffen wurde, und diese "Zäsur in der Geschichte" mache Konsequenzen erforderlich, die hart sind und viel einfordern von den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland - und darüber müsse gesprochen werden. Über Fragen, über Ängste, über Meinungen hierzu.

Die Moderation des Abends übernahm Karina Mößbauer, ehemalige Chefreporterin Politik für die Bild-Zeitung und seit zwei Jahren für "The Pioneer" als Chefkorrespondentin Politik tätig. Mößbauer stellte die Gäste des Abends vor: Neben Christoph Heusgen waren dies Professorin Nicole Deitelhoff, die Direktorin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, Sven Weidlich, Deskchef der Frankfurter Neuen Presse und der Hessische Innenminister Roman Poseck, der im Laufe des Abends die Diskussionsrunde bereicherte.

Nicole Deitelhoff bezeichnete die Frage, wo man aktuell im Ukraine-Krieg stehe, als sehr schwierig: Bewaffnete Konflikte seien ein sehr komplexes Phänomen. Schon 2022 habe ihr Institut prognostiziert, dass dies ein langer Krieg werden würde. Auf Basis sehr großer Mengen an Daten, die seit dem Ende des Kalten Krieges gesammelt wurden, hat man im Bereich der Konfliktforschung entdeckt, dass es zwei günstige Phasen gibt um einen Krieg zu beenden: Zum einen ist dies kurz nach dem Ausbruch eines Krieges der Fall, wenn die Konfliktparteien merken, dass die Annahmen über die eigene Stärke und die des Gegners falsch waren. "Und das haben wir auch in diesem Krieg gemerkt: Deswegen waren die beiden Konfliktparteien relativ früh willens in Verhandlungen zu treten", so Deitelhoff. Jedoch sind die damaligen Istanbuler Verhandlungen gescheitert.

Der zweite vielversprechende Zeitpunkt zur Beendigung eines bewaffneten Konflikts ist der sogenannte Reifungspunkt: Wenn die Kriegsparteien den Eindruck haben, dass sie den Krieg nicht mehr militärisch für sich entscheiden können. Wenn man nur noch verliert und die Kosten der Kriegsführung den potenziellen Nutzen überwiegen - und eine Chance sieht, den Konflikt auf anderem Wege zu beenden, sprich: Durch Gespräche und Verhandlungen.

Und dies sei Deitelhoff zufolge auch das, was die finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine bewirken soll: Man will erreichen, dass Russland glaubt, den Krieg nicht mehr militärisch für sich entscheiden zu können und gleichzeitig den Eindruck gewinnt, dass es einen Weg für Verhandlungen gibt.

Wie nah man derzeit diesem Reifungspunkt ist, wagte Deitelhoff nicht konkret zu prognostizieren. Aber sie führte Indizien auf, die darauf hindeuten, dass man dem Punkt näher ist als noch vor einem Jahr. Heute würde aus allen Richtungen mehr über Verhandlungen geredet, es seien mehr Initiativen erkennbar, aber auch "ganz klassische Finten", wie beispielsweise das Verhalten von Putin vor der Schweizer Friedenskonferenz. Aber selbst das zeigt nach Ansicht der Konfliktforscherin: Es ist etwas in Bewegung, man lotet etwas aus.

Zudem sei immer noch Dynamik in dieser militärischen Auseinandersetzung, siehe der Einmarsch der Ukraine in Kursk oder der Druck auf der Ostfront in der Ukraine. Man habe es nicht mit einem reinen Abnutzungskonflikt zu tun.

Fake-News und Desinformation als Kriegstaktik

Die Diskussionsrunde wurde an diesem Abend recht schnell geöffnet, denn schließlich sollte ja auch der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund stehen. Dazu zählten auch die Aktivisten vom Kreisverband der Linken und der Friedensinitiative Main-Taunus, die vor der Hofheimer Stadthalle eine Mahnwache abhielten und sich gegen die "Militarisierung unserer Gesellschaft" aussprachen. Diese wurden aktiv zum Dialog eingeladen - jedoch machte niemand aus dieser Gruppierung davon Gebrauch, man verharrte lieber vor der Halle.

Im Laufe des Abends rückte das Thema "Hybride Kriegsführung" immer stärker in den Mittelpunkt der Debatte, ausgehend von zahlreichen Publikumsfragen in diese Richtung. Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt dies als "eine Kombination regulärer und irregulärer politischer, wirtschaftlicher, medialer, subversiver, geheimdienstlicher, cybertechnischer und militärischer Kampfformen. Dadurch verwischen die rechtlichen und moralischen Grenzen zwischen Krieg und Frieden. Die einhegende und zivilisierende Wirkung dieser Grenzen, Normen und Regeln geht verloren. Ein zentrales Motiv der Kriegsparteien ist, die Zurechnung von (völker-)rechtlich und moralisch unzulässigen Handlungen unmöglich zu machen. Oft soll selbst die eigene Kriegsbeteiligung verschleiert werden."

Sven Weidlich stellte fest, dass Russland schon lange intensiv auf diesem Feld tätig ist und Desinformation betreibt, was nicht zuletzt auch dadurch erleichtert wird, dass ein soziales Netzwerk wie TikTok aus China stammt und hierzulande deshalb kaum zu kontrollieren ist. Eine besondere Gefahr sieht er in Hinblick auf die jüngere Bevölkerung, die stark auf Social Media anspricht und trotz aller Schulbildung nicht mehr so genau überlegt, welcher Quelle man trauen kann.

Diese Angst bestätigte auch eine junge, politisch interessierte Mutter aus dem Publikum, die selbst immer wieder ihren Algorithmus in sozialen Medien "reparieren" muss, weil sie plötzlich unverhofft mit Fake News und Propaganda bombardiert wird. Und noch weitaus beängstigender findet sie den Umstand, dass sie ähnliches auch auf dem Smartphone ihres Sohnes beobachten kann. Auch eine junge Erstwählerin meldete sich zu Wort und berichtete, dass in ihrer Altersklasse via TikTok extremistische Progaganda verbreitet wird, und das leider zuweilen auch wirksam. Sie kennt Klassenkameraden, die "aus Spaß" die AfD gewählt haben.

Nicole Deitelhoff bestätigte, dass man es mit "unglaublich vielen hybriden Angriffen" zu tun habe. Diese Angriffe setzen nicht mehr auf die Zerstörung materieller Dinge, sondern auf die Zerstörung der Widerstrandskraft. Deutschland sei hierfür ein "Prime Target", also ein bevorzugtes Ziel, was die enorme Anzahl an Fake News und die Vehemenz, mit der diese verbreitet werden sollen, erklärt. Auf diesem Wege sollen politische Systeme destabilisiert und Widerstände gebrochen werden, und das sei ein wesentlicher Pfeiler der gegenwärtigen Kriegsführung. "Da muss man sich nichts vormachen: Das wird auch noch stärker werden, deswegen muss man da auch investieren", forderte Deitelhoff in Richtung Politik.

Christoph Heusgen rief hierzu noch einmal in Erinnerung, dass soziale Netzwerke wie TikTok oder Telegram chinesische und russische Besitzer haben. "Und dann müssen wir manchmal auch darüber nachdenken, ob wir als freiheitliche Demokratie dann auch mal sagen: Nein, wir verbieten diese Medien, weil damit unsere Demokratie untergraben wird." Das klinge zwar hart, gerade in Hinblick auf die Meinungsfreiheit. "Aber wenn wir sozusagen selbst das Seil liefern, an dem wir aufgehängt werden, dann müssen wir mal überlegen, ob wir da nicht radikalere Maßnahmen machen." Innenminister Roman Poseck glaubt auch, dass man um solche Maßnahmen nicht umhin kommen wird.

Eine weitere Stimme aus dem Publikum wunderte sich darüber, dass sich das falsche Narrativ, dass die hiesige Demokratie und freuheitliche Gesellschaft gar nicht frei sei und man nicht mehr alles sagen dürfe, so verfängt. Poseck bestätigte diese "schwierige Diskussionslage in unserem Lande". Es werde immer schwieriger mit Fakten und differenzierten Meinungen durchzudringen, dank populistischer und extremistischer Kräfte, die mit Halb- oder Unwahrheiten arbeiten und diese sehr gezielt über das Internet transportieren und der Bevölkerung genau diesen Eindruck vermitteln wollen. Jedoch: "Man kann hier ganz viel sagen! Auch ganz viel Unsinn", stellte der Innenminister energisch fest. Niemand habe jedoch Anspruch darauf, dass man dann mit seiner Meinung auch letztendlich andere überzeugen kann.

Und entgegengesetzte Meinungsäußerungen, Gegenwind und Konsequenzen sind keine Hinweise darauf, dass es um die Meinungsfreiheit in Deutschland schlecht bestellt ist - ganz im Gegenteil. "Sicherlich gibt es irgendwo Grenzen, wenn Rechte anderer betroffen sind, wenn es Straftaten sind. Aber ansonsten ist das Spektrum der Meinung sehr, sehr breit und ich glaube, dass müssen wir auch versuchen zu transportieren", so Poseck. Aber er stelle auch fest, dass es immer schwieriger wird bestimmte Teile der Bevölkerung, die sich in eine Blase zurückgezogen haben, noch zu erreichen.

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