Einige Vorbereitungen zum Abheben der Zwiebel waren schon getroffen, so waren schon die Dachziegel abgedeckt, das Kreuz abgenommen und die empfindliche Spitze des Türmchens sorgfältig „eingepackt“ worden. Nun hörte man wie oben gesägt wurde, es wurden Balken mit dem Aufzug des großen seitlichen Gerüsts nach oben gefahren, der Kran fuhr seinen mehr als 50 Meter langen Arm mit dem großen Haken und den schweren Eisenketten in die luftige Höhe. Die Zimmermänner hoch oben hatten mit der Säge offenbar die Eisenstäbe durchtrennt, mit denen die Zwiebel zusätzlich zu den großen hölzernen Verzapfungen auf dem „Kranz“ (das ist der Teil des Dachreiters, auf dem die Zwiebel aufsitzt) befestigt war und die nach oben gebrachten Balken unter dem Rand der Zwiebel durchgeführt, um daran die Seile zu befestigen, an denen sie nach oben vom Dach weggezogen werden sollte.
Zimmerermeister Wölfel selbst überwachte auf der großen Gerüstplattform neben dem Dach die Arbeiten. Schließlich kletterte einer der Zimmermänner außen auf das Zwiebeltürmchen, um die Seile an den Ketten des voll ausgefahrenen Kranes zu befestigen. „Der Mann ist ein Held!“, entfuhr es einer der inzwischen zahlreichen Zuschauer unten vor der Kirche, „mir wird schon schwindlig, wenn ich nur die Treppe runter gucke!“ „Ja, man hätte vielleicht doch auch gleich die Sanitäter herbestellen sollen, wenn man so sieht, wie der da oben rumturnt“, meinte ein anderer. „Warum Sanitäter? Der Herr Pfarrer ist doch da!“, wurde schon fast sarkastisch, aber lachend geantwortet. „Als Sensation würde schon reichen, wenn die Zwiebel beim Herunterholen auf das große Gerüst fallen würde“, wurde weiter von den staunenden Zuschauern geunkt.
Gott sei Dank ist kein tragischer Unfall passiert – aber doch: Als die Zwiebel des Türmchens schließlich an Seilen am Haken hing und noch oben angezogen wurde, krachte sie frei schwingend kurz und lautstark gegen die obere Stange des Gerüstes, die Stange verbog sich, ein bisschen Dachpappe segelte nach unten und das „Zwiebelchen“ hing mit seinem etwas ausgestellten Rand an der Gerüststange fest. Leicht krächzend konnte die Zwiebel vom Kranführer an der hinderlichen Stange vorbei, dann aber doch weiter nach oben gezogen werden. Der Kranausleger schwenkte auf die Seite, wurde langsam eingezogen und setzte das „Zwiebelchen“ behutsam auf dem Platz direkt hinter dem LKW, der für den Abtransport bestimmt war, auf den Boden.
Hier konnte man über die Ausmaße des von unten gesehen auf dem Kirchendach so elegant und zierlich wirkenden „Zwiebelchens“ staunen: Immerhin ist es mehr als sechs Meter hoch und wiegt etwa zwei Tonnen. Und man konnte auch sehen, warum eine Restaurierung dringend notwendig ist: Zwar sind die meisten tragenden Balken (die immerhin seit beinahe 350 Jahren das „Gerüst“ für die Zwiebel des Dachreiters bilden) noch immer nicht verrottet, aber dort, wo Wasser eindringen konnte, sind die dünneren Holzteile doch recht morsch.
Nun sollte die Zwiebel aber nicht „stehend“ auf den LKW geladen werden, sie musste zunächst in eine horizontale Lage gebracht werden. Auch hier erwies sie sich als widerspenstiger als gedacht: Erst mit Hilfe von etlichen Balken und der hinteren Ladekante des LKW, gab sie dem heftigen Ziehen der Zimmermänner nach und kippte nach vorne Richtung Spitze um. Die Seile des Krans konnten von der Spitze an die „Taille“ der Zwiebel verlegt werden und der Kran konnte die Zwiebel auf den LKW heben.
Am Morgen hatten sich die erfahrenen Handwerker – die Firma Wölfel hat schon an die 20 solcher „Kirchturm-Aktionen“ bewältigt – darauf geeinigt, erst dann, wenn die Zwiebel vom Kirchdach gehoben war, oben auf dem Dach genau zu untersuchen, ob auch der sogenannte „Kranz“ abgehoben und in ihre Werkstatt transportiert werden muss, oder ob man ihn doch vor Ort in Flörsheim restaurieren könnte. Kurz nachdem das „Zwiebelchen“ bequem auf dem LKW lag, hatte man sich entschieden: Auch der Kranz musste abgehoben werden, zwei seiner Pfosten sind vollkommen verfault.
Wieder sah man oben die Zimmerleute arbeiten, hörte sägen und hämmern. Es war schwieriger als gedacht, die alten Verzapfungen des Kranzes zu lösen, aber schließlich schwebte auch der ebenfalls mehr als sechs Meter hohe untere Teil des Dachreiters zu Boden und konnte verladen werden. Etwa gegen 12.45 Uhr war die Aktion beendet.
Nun ragt nur noch das „Glockenjoch“ des Zwiebeltürmchens aus dem Dach der Gallus-Kirche, es wird mit seinen handgeschmiedeten Nägeln und Beschlägen von der Flörsheimer Turmuhrbauer-Firma Schneider vor Ort restauriert werden. Früher hat das Glockenjoch einmal zwei kleine Glocken getragen, die jedoch nicht wieder angebracht werden, sie hätten zwischen 12000 und 14000 Euro gekostet. „Das wären ja nur 'Liebhaberstückchen' gewesen“, sagt Pfarrer Beuler dazu, „wir haben fünf Glocken in St. Gallus, die reichen uns doch für den kirchlichen Gebrauch. Außerdem hätte man – wollte man wieder Glocken an den Dachreiter hängen – die dadurch verursachten Schwingungen in die statischen Berechnungen einplanen müssen.“
Obwohl Zwiebel und Kranz abtransportiert wurden, bleiben noch Arbeiten in der Kirche selbst zu tun, um den Dachreiter zu sanieren: Unter dem Kirchendach befindet sich der sogenannte „Kaiserstuhl“, der den kleinen Zwiebelturm sozusagen im Gebälk des Dachbodens „verankert“ und stabilisiert. „Vom Kaiserstuhl ist mehr als ein Meter kaputt, da muss einmal Wasser reingelaufen sein“, erklärt Reinhardt Lehrig vom Verwaltungsrat der Gallus-Kirche.
Vier bis sechs Wochen sind vorgesehen für die Restaurierung des Dachreiters, spätestens bis zum Verlobten Tag soll die Flörsheimer Silhouette wieder dieselbe sein, wie seit mehr als 300 Jahren. „Zimmerermeister Wölfel kriegt das alles hin, seine Firma hat ein großes Holzlager, er wird geeignetes Holz haben, den Dachreiter dauerhaft zu restaurieren. Und er ist noch ein 'Urgestein' von Zimmerermeister, er hat schon alles gemacht – er ist sozusagen ritz-, kratz- und wasserfest!“, lacht Reinhardt Lehrig zuversichtlich.
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